Babylon: Thriller
eine Auffassung, die sich übrigens bis auf den heutigen Tag gehalten hat. Alle loben und feiern die Natur, während Städte als notwendiges Übel betrachtet werden.«
Ward blieb vor dem Tisch stehen und zwang uns, zu ihm aufzuschauen. »Ich erlaube mir an dieser Stelle ein wenig künstlerische Freiheit und behaupte, dass die Autoren der Hebräischen Bibel eine große Nation bilden wollten. Das gelang ihnen auf glänzende Weise. Aber sie mussten die Bedrohung, die von ihren Feinden – den kanaanitischen und assyrischen Städtebauern – ausging, deutlich machen.«
»Ich denke, Sie gehen mit Ihrer Interpretation ziemlich weit. Sie können nichts von dem, was Sie behaupten, eindeutig beweisen.« Tomas schien sich über Wards Behauptung zu ärgern. Falls er früher tatsächlich in einem Priesterseminar studiert hatte, vertrat er notgedrungen die traditionellen Lehrmeinungen.
Ward vollführte mit dem Glas in der Hand eine ausholende Geste. Ich konnte die Eiswürfel im Mineralwasser leise klirren hören. »Die Genesis ist eine Parabel, aufgeschrieben von Nomaden, die sich durch Stadtstaaten bedroht fühlten. Lesen Sie mal die frühere mesopotamische Version der Geschichte von Kain und Abel. Sie ist völlig anders. Dort treten die beiden Hauptpersonen, Schäfer und Bauer, als Könige auf. Und es ging um eine Frau und nicht um irgendwelche Geschenke für Gott. Ein erheblich glaubwürdigerer Grund für einen Streit.«
Ich wusste, dass Samuel diese Auffassung geteilt hatte. Er glaubte, dass Mythen nicht erfunden wurden, sondern sich aus realen Ereignissen entwickelten, wofür die Geschichte von der Sintflut ein perfektes Beispiel war. Ehe das geschriebene Wort eingeführt wurde, konnten Informationen ausschließlich mündlich weitergegeben werden, und die Informationen, die für zukünftige Generationen lebenswichtig waren, mussten so dramatisch wie möglich formuliert werden – in Form von Gedichten. Die Reimform und der Sprachrhythmus vereinfachten die Weitergabe enorm.
Ward unterbrach meine Überlegungen. »Zurück zu Nahum. Als ich begann, das Buch zu studieren, bat ich einen befreundeten Schriftsteller, es für mich zu beurteilen. Es ist nicht sehr bekannt; er hatte noch nie davon gehört. Daher näherte er sich ihm von einem völlig neuen Standpunkt aus. Als Erstes überraschte mich, wie gut es ihm gefiel. Er meinte, es sei geradezu poetisch und in jeder Hinsicht überzeugend. Was ihn jedoch gleichzeitig verwirrte, war, dass Ton und Darstellungsweise sich nach dem ersten Kapitel grundlegend änderten. Das bestätigte, was ich glaube, auch wenn andere Gelehrte widersprechen.«
»Und was glauben Sie?«, fragte ich.
»Dass das gesamte erste Kapitel und der Anfang des zweiten Kapitels lange nach Fertigstellung des ursprünglichen Textes geschrieben und hinzugefügt wurden, ohne dass Nahum noch daran beteiligt war. Interessanterweise unterstützt die King-James-Bibel diese Theorie, da sie mit dem zweiten Kapitel beginnt, an der Stelle, die in der hebräischen Bibel als Kapitel 2, Vers 2 bezeichnet wird.«
Ein paar Regentropfen fielen. Der Himmel hatte sich schiefergrau verfärbt. Ein Wolkenbruch drohte. Wir standen hastig auf und eilten in die Küche. »Ich glaube, sich nach draußen zu setzen, war doch keine so grandiose Idee«, sagte Ward. »Ziehen wir doch nach oben in die Bibliothek um.«
Ward geleitete uns in ein Zimmer im ersten Stock. Die hintere Wand seiner Bibliothek bestand aus Regalen, die vollgestopft waren mit Büchern über Kunst und Fotografie mit Schwerpunkt New York; außerdem standen dort zahlreiche alte, nach Moder riechende Werke mit hebräischer Schrift auf den Rücken. Ein ganzes Regalbrett war für Werke über den Symbolismus in der religiösen Kunst reserviert. Zwischen sie hatte sich auch der ein oder andere Roman verirrt. Ich zog ein Exemplar des Großen Gatsby heraus, blätterte darin und stellte fest, dass es eine signierte Erstausgabe war.
Ich nutzte die Unterbrechung, um die Toilette im zweiten Stock aufzusuchen. Sie war mit einer Badewanne und einer Dusche ausgestattet, in welcher der Duschkopf an der Decke befestigt war, so dass das Wasser regengleich herabrieseln konnte. Dazu ein eigenwillig geformtes Porzellanwaschbecken, elektrische Zahnreinigungsapparaturen, die jeden Zahnarzt vor Neid hätten erblassen lassen, handbemalte Mailänder Fliesen, ein Fußboden aus Kiefernholzbrettern und makellos weiße Handtücher.
Ich warf einen Blick auf die Uhr und stieß einen lauten Fluch
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