Baccara Exklusiv Band 23
entlang.
Ein weißes Häuschen – die exakte Nachbildung des Wohnhauses – stand mitten im Hof.
Hier lebte also ein Kind.
Rafe hielt inne und atmete tief durch.
Ganz ruhig, ermahnte er sich. Ein Spielhaus bedeutet noch lange nicht, dass du Vater bist.
Gerade als er sich auf das Grundstück gleiten lassen wollte, entdeckte er den Indiojungen, der vor ihm davongelaufen war. Das Kind kletterte über die gegenüberliegende Mauer und sprang geschmeidig wie eine Katze auf die Terrasse. Rafe machte es ebenso und folgte ihm leise.
Vor dem Haus angekommen, warf der Junge einen Stein an ein Fenster im zweiten Stock und rief einen Namen.
"Sadie!"
Sadie. Nur ein Name, aber als Rafe ihn hörte, war er wie elektrisiert.
Das Fenster flog auf.
Der Kopf eines Mädchens mit langem, blondem Haar erschien in der Fensteröffnung. Sie trug einen großen, spitzen Hut, der hin und her wackelte, wenn sie sich bewegte. Warnend legte sie einen Finger an die Lippen und deutete auf das Zimmer, das sich neben ihrem befand. Dann verschwand sie, tauchte aber gleich darauf an der Balkontür wieder auf.
Das Kind war schnell wie der Blitz.
Rafe sah, dass der hohe, spitze Hut zu ihrem langen, schwarzen Kleid passte, und wehmütig erinnerte er sich daran, wie gern er sich als Kind verkleidet hatte.
Diese Gemeinsamkeit musste nichts bedeuten, doch Rafe spürte an seiner Stirnwunde, dass sein Puls heftig zu pochen begann.
War dieses wieselflinke Wesen dort seine Tochter?
Nein! Nie würde sich seine sechsjährige Tochter aus dem Haus schleichen, um einen Straßenjungen zu treffen.
Aber woher kamen die väterlichen Gefühle, die ihn überfielen, als er beobachtete, wie sie sich über das Geländer beugte, ungeduldig den langen Rock hob und die Schuhe auszog? Auf Zehenspitzen schlich sie quer über den Balkon.
"Was ist denn los, Juanito?", flüsterte sie in akzentfreiem Spanisch. Ihre Stimme klang aufgeregt und verärgert.
Als Rafe dichter heranschlich, brach ein Zweig unter seinen Füßen.
Die Kinder fuhren zusammen, als hätten sie einen Schuss gehört.
"Was war das, Juanito?"
"Vielleicht ein Geist. Sie gehen jetzt um."
Mit großen Augen starrten sie suchend in die Schatten der Bäume.
"Ich kann nichts entdecken", erklärte Sadie.
Der kleine Straßenjunge baute sich wichtigtuerisch vor ihr auf. "Ich jedenfalls habe schon einen Geist gesehen."
"Das glaube ich dir nicht, Juanito!"
"Ich habe deinen Vater gesehen."
Am liebsten wäre Rafe aufgesprungen und hätte dem Jungen widersprochen, doch er war wie gelähmt.
"Wann?" Sadie wippte auf den Zehenspitzen. "Wo?"
"Vor ein paar Minuten. Auf der Straße. Ich wollte ihm Kaugummi verkaufen."
"Geister kaufen doch kein Kaugummi, du Dummkopf!"
Geister? Was sollte das denn heißen?
"Doch, er hat es genommen."
"Jetzt schwindelst du aber, Juanito."
Sie hatte ja so Recht.
"Nein! Er trug einen Cowboyhut, genau wie auf dem Foto, das du von deiner Mutter stibitzt hast. Den Pferdeschwanz hat er abgeschnitten, und er war voller Staub, zerkratzt und sah richtig unheimlich aus, so als wäre er vor kurzem aus seinem Grab gestiegen!"
"Toll!"
"Komm runter! Ich zeige dir, wo ich ihn gesehen habe!"
Das Mädchen schaute über die Brüstung und warf Juanito mit beinahe herrischer Geste ihren Hut zu. Als er ihn fing und sich selbst aufsetzte, kicherte sie. Sorgfältig klemmte sie den langen Rock unter einen Arm, sprang auf die Brüstung und griff mit dem anderen nach dem Ast eines Baumes, der gleich neben dem Haus stand.
"Warum nimmst du nicht die Treppe?", wollte Juanito wissen.
"Weil Mommy in ihrem Zimmer ist. Sie könnte mich sehen!"
Sadie schaute herunter und verlor das Gleichgewicht. Als sie schwankte und wild mit den Armen in der Luft herumruderte, hielt Rafe vor Schreck den Atem an. Besorgt beobachtete er, wie sie sich, geschickt wie ein kleiner Affe, den Ast entlang bis zum Baumstamm hangelte.
Dann sprang Sadie ab, und Juanito nahm ihre Hand. Sie wechselten einen Blick, der Aufregung und Zuneigung verriet. Rafe fühlte sich an die eigene Kindheit und seine Freundschaft zu Mike erinnert. Die Kinder rannten zu der Mauer, über die Juanito gekommen war, kletterten hinüber und verschwanden in der Dunkelheit.
Offensichtlich hatte Cathy ihre Tochter überhaupt nicht im Griff.
Aber Cathy war ja auch nie in den Griff zu bekommen.
Sie hätte sich sicher nie in Rafe verliebt, wenn ihre einengende Erziehung sie nicht so freiheitsliebend gemacht hätte. Doch nun stellte sich die Frage, ob
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