Back to Blood
getrieben. »Ich versuche nur mir vorzustellen, wie sie da im Gerichtssaal sitzen und mit ansehen, wie man ihren Lehrer ins Gefängnis schickt. Also ich möchte jedenfalls nicht an ihrer Stelle sein.« Er sah nach unten und schüttelte den Kopf, während ein freudlos verzerrtes Lächeln auf seinen Lippen erschien. Tja, schätze, so ist das Leben.
»Ich muss jetzt wieder los«, sagte Philippe. Der sprießende Bariton war verschwunden. Er war nur noch ein verängstigter Junge mit dem überwältigenden Verlangen, sich in Luft aufzulösen. Luft kann man nicht sehen.
Er schaute seine Schwester an, als wollte er sie um Erlaubnis bitten, aufstehen und gehen zu dürfen. Ghislaine gab ihm keinen Hinweis, weder dafür noch dagegen. Das übernahm Nestor. Er stand auf und bedachte Philippe mit einer Riesenportion strahlendem CopCharme, den dieser sofort als Okay auffasste und förmlich von der Couch aufsprang. Nestor streckte ihm die Hand hin … strahlend, wie ein Geschenk … Ich habe die Macht — nicht du — aber im Augenblick ist meine einzige Absicht die, herzlich und freundlich zu sein, weil ich dich bis jetzt akzeptiere. Sie gaben sich die Hand. »War nett, dich kennenzulernen, Philippe!« … und drückte ein wenig fester zu als nötig … Philippe erschlaffte wie eine Pfingstrose. Er schaute Ghislaine mit panischen, flehenden Augen an, »Bitte, hilf mir!« — und ging dann in die Küche. Diesmal keine Spur von Pimp Roll .
Sie hörten, wie die Hintertür auf- und wieder zuging. Ghislaine ging in die Küche, um nachzuschauen, ob er auch wirklich gegangen war … und kehrte dann für die Manöverkritik ins Wohnzimmer zurück.
»Woher haben Sie die Nachnamen von diesen vier Jungen?«, fragte Ghislaine. »Von Patrice, Fat Louis — wie hießen die anderen noch?«
»Hervé und Honoré.«
»Ist Ihnen Philippes Gesichtsausdruck aufgefallen? Wahrscheinlich hat er gedacht, dass die Polizei schon alles weiß. Ernsthaft, woher haben Sie die Nachnamen?«
»Das war nicht schwer«, sagte Nestor. »Der Detective bei der Schulpolizei, den ich eben erwähnt habe, wir waren früher zusammen bei der Marine Patrol. Ja, ist mir aufgefallen, das hat Ihren Bruder echt umgehauen.«
»Was meinen Sie … wie tief steckt Philippe mit drin?«
»Er hat Angst«, sagte Nestor. »Er wollte nicht ein Wort über die Sache rauslassen. Ich nehme an, dass er vor diesem Dubois Angst hat. Ein übler Bursche, meint mein Freund, Jugendstrafen ohne Ende. Deshalb wollte ich, dass jetzt alle wissen, es gibt Schlimmeres, als sich vor diesem Dubois zu fürchten.«
»Dass jetzt alle wissen?«, sagte Ghislaine.
»Na ja, ist doch klar, was Ihr Bruder jetzt als Erstes tut. Er erzählt den anderen vier, dass die Polizei sich über ihre Aussagen Gedanken macht, und zwar nicht nur die Schulpolizei, und dass einer von ihnen seine Aussage widerrufen hat. Und jeder sagt natürlich, dass er es nicht war, aber alle fragen sich, wer der Verräter ist. Meiner Meinung nach fangen sie jetzt alle an, sich gegenseitig zu misstrauen, und jeder überlegt sich, ›Wenn ich lüge, um Dubois zu decken, dann blüht mir das und das. Das ist schlimmer als das, was Dubois mir antun kann.‹ Außerdem glaube ich, dass es ganz nützlich ist, wenn sie sich ein paar Gedanken über den Lehrer machen, diesen Estevez, und was mit ihm passiert. Die können doch nicht alle vollkommen gefühllos sein. Philippe ganz sicher nicht!«
»Ich weiß, dass Philippe das nicht ist«, sagte Ghislaine. Sie hielt inne … versank in Gedanken … und rief plötzlich, »Ihm fehlt etwas viel Schlimmeres, Nestor! Ihm fehlt Mut! Er ist ein Baby! Er schleimt sich bei nichtsnutzigen Verbrechern ein! Wie diesem Dubois! Den fürchtet er mehr als den Tod — und deshalb springt er auf dieses widerliche Machogehabe an, deshalb will er, dass sie ihn mögen! … Ich bin sicher, dass sie über ihn lachen, wenn er nicht dabei ist, und trotzdem plappert er ihnen alles nach. Hat er Angst davor, wegen Meineids eingesperrt zu werden? Hat er Angst vor den schrecklichen Dingen, die ihm im Gefängnis zustoßen könnten? Weiß er, wie das Gewissen ihn plagen wird, wenn Estevez mit seiner Hilfe im Gefängnis landet? Ja! — er erkennt das alles genau. Aber das ist nichts im Vergleich zu der Angst, die er vor diesen harten Kerlen hat, diesem Dubois und all den anderen. Er bewundert sie, weil sie härter und gewalttätiger sind als er! Und jetzt zittert er bei dem Gedanken, was für unaussprechliche Scheußlichkeiten sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher