Back to Blood
einen Satz, als wollte es sich zu irren, vorhofflimmernden Höhen aufschwingen. Sie betete zu Gott —
— und wurde erhört: Es war nur Amélia. »Danke, Gott!«, sagte sie, wenn auch nur leise flüsternd.
Gestern und vorgestern, Montag und Dienstag, hatte Amélia bei ihm übernachtet, einem zweiunddreißigjährigen Assistenz arzt für Neurochirurgie, der plötzlich in ihr Leben getreten war und in der Nähe des Krankenhauses wohnte. Ein Neurochirurg! Chirurgen standen in allen Krankenhäusern an der Spitze der Statushierarchie, weil sie Männer der Tat waren — Chirurgen waren gewöhnlich Männer — Männer der Tat, die gewohnheitsmäßig und buchstäblich menschliches Leben in ihren Händen hielten — und momentan waren Neurochirurgen die romantischsten von allen. Von allen Chirurgen trugen sie die größten Risiken. Wenn sich jemand einer Gehirnoperation unterziehen musste, dann ging es ihm schon sehr schlecht, und die Sterberate auf dem Gebiet der Neurochirurgie war die höchste. (Am unteren Ende der Leiter rangierten Dermatologen, Pathologen, Radiologen und Psychiater; keine lebensbedrohlichen Situationen, keine Notrufe mitten in der Nacht, zu Hause, an freien Tagen oder über den Krankenhauslautsprecher, kein demütigender Gang im OP -Kittel zum Warteraum, wobei man sich den Kopf zerbricht, mit welchen Worten man den betenden Nervenbündeln beibringen soll, dass und warum gerade einer ihrer Lieben auf dem OP -Tisch gestorben ist.) Magdalena fiel auf, dass Amélias und ihr Liebesleben sich ins Gegenteil verkehrt hatten. Es kam ihr vor wie gestern, dass Amélia die Reggielose, die Verlassene gewesen war, während sie mit einem jungen, berühmten, reichen, attraktiven, verwegenen Russen namens Sergej herumgezogen war. Jetzt gab es keinen Sergej mehr, das hoffte sie zumindest inständig. Sie war die Verlassene, obendrein noch zu Tode verängstigt, während Amélia es mit einem jungen Kubaner der zweiten Generation krachen ließ, der Neurochirurg war und somit von Haus aus romantisch.
Nach sechs, das war das letzte Mal, als sie auf die Leuchtanzeige ihres Weckers geschaut hatte, musste Magdalena doch für ein paar Stunden eingeschlafen sein, denn als sie das nächste Mal aufwachte, zeigte der Wecker 9:30 Uhr. In der Wohnung war es ruhig. Amélia war spät nach Hause gekommen und schlief wohl noch. Es war ihr freier Tag. Magdalena hätte zufrieden liegen bleiben können, doch stürzten aus dem hypnopompischen Nebel sofort wieder die Umstände ihres Elends und ihrer Ängste auf sie ein, und sie war zu vorsichtig, um weiter in der verwundbaren Rückenlage zu verharren. Also stand sie auf, zog sich einen Baumwollbademantel über das T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte, und ging ins Bad. Aber auch nachdem sie sich zwei Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, fühlte sie sich nicht besser. Ihr Herz schlug schon wieder ein bisschen zu schnell, sie spürte einen dumpfen Kopfschmerz und fühlte sich so schlapp wie sonst nie am Morgen. Sie ging in die Küche und machte sich eine Tasse kubanischen Kaffee. Der würde ihr guttun — aber die Hauptsache war, vorsichtig zu sein und bei dem leisesten Geräusch sofort, noch bevor sie zur Tür ging, um zu lauschen, nach Amélia zu schreien und die Notrufnummer anzurufen. Sie ging in das winzige Wohnzimmer und setzte sich in einen der Lehnstühle, aber allein die Tasse festzuhalten ermüdete sie. Sie stand wieder auf, stellte die Tasse auf den kleinen Couchtisch und schaltete, da sie schon mal auf den Beinen war, den Fernseher an. Um Amélia nicht aufzuwecken, drehte sie den Ton ganz leise. Auf einem spanischen Sender lief eine Talkshow. Der Gastgeber war der Komiker Hernán Loboloco. Er zog es vor, mit Loboloco angesprochen zu werden, nicht mit Hernán, weil Loboloco Verrückter Wolf bedeutete und er ein Komiker war. Sein Markenzeichen war, den Gästen mit der Stimme anderer Leute, berühmter Leute, ernste Fragen zu stellen, wie zum Beispiel einem Skateboard-Champion zu Halfpipe-Stunts, und zwar mit der zornigen, mahnenden Stimme des Gewerkschafters Cesar Chavez, mit der er immer Rechtsverstöße anprangerte. Er machte das sehr gut — er konnte auch saukomische Tiergeräusche nach machen, mit denen er jede Sekunde über seine Gäste herfallen konnte. Wenn Magdalena überhaupt mal den Fernseher anstellte, schaute sie sich gern Loboloco an. Aber im Augenblick war sie zu deprimiert und misstrauisch, um irgendetwas lustig zu finden, außerdem ärgerte sie sich trotz
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