Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
noch einmal eine halbe, bis ich im Gehupe und Gerempel der Straßen, im Schatten der frisch hochgezogenen Bahn-, Sony-, Imax- und sonstiger Towers und Skygardens die Neue Nationalgalerie fand.
Ludwig Mies van der Rohes ebenso kühne wie kühle Dachkonstruktion ruhe erstaunlicherweise auf nur acht Säulen und scheine so die Schwerkraft zu überwinden, sagte mein Reiseführer. Mich erinnerte das Ding eher an ein Ufo vom Planeten After Eight, notgelandet auf dürren Schokopfefferminzbeinen in einer zubetonierten Wüste. Niemals würde sich mir das Rätsel Architektur entschlüsseln.
Kaum hatte ich die Haupthalle der Galerie betreten, fühlte ich mich besser. Sonnenlicht umflutete mich, die hohen Glaswände beschützten mich vor der Hektik draußen. Ich setzte mich zum Durchatmen kurz auf eine der Bänke. Zwei Treppen führten ins Untergeschoss, zu den eigentlichen Ausstellungsräumen.
Ich brauchte nicht lange zu suchen, die Three Studies of Isabel Rawsthorne on single canvas hingen gleich im ersten Raum. Die Wirkung stellte sich nicht sofort ein – war ich immun geworden? Ich wandte mich ab, streifte durch die Galerie, den Blick auf den Boden fixiert. »Haben Sie etwas verloren?« – das war eine Museumswärterin; ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein paar Strähnen fielen ihr in die Stirn. Ihr Tonfall war streng genug, um mich einzuschüchtern. »Ja«, stammelte ich, »eine … Kontaktlinse.« War ja nicht ganz gelogen. Der Kontakt zur Außenwelt war mir entglitten; ich nahm sie nur noch verschwommen wahr.
Als die Wärterin dann aber anbot, mir beim Suchen zu helfen, lehnte ich dankend ab, machte kehrt und flüchtete in den nächsten Schauraum. Drehte noch ein paar Runden und behielt die Wärterin im Auge. Erst als ich sie in einem Büro verschwinden sah, kehrte ich zu meinem Bild zurück.
Drei Isabels auf einer Leinwand. Die erste als Foto an die Wand gepinnt; die zweite in einer schwarzen Türöffnung; die dritte mit einem Schlüssel zu jener Tür in der Hand. Der Schlüssel steckt im Schlüsselloch; vor der dritten Isabel steht ein rundes Tischchen mit einem gefüllten Aschenbecher.
Der an die Wand genagelten Isabel1 tropft violetter Schleim aus dem Mund, rinnt ihr übers Kinn in den Hals – und aus den Schleimfäden, dem skelettierten Kinn, den Halsfragmenten und dem Brustansatz formiert sich ein Umspringbild: Isabels Kinnknochen werden zu Fangzähnen eines Vampirs mit aufgesperrtem Rachen. Das schwarze Kleid von Isabel2 verschwimmt mit dem Schwarz der Nacht hinter der Tür. Isabel2 ist dennoch weniger eine Botin des Todes als eine Grande Dame mit Glamour: Isabel im kleinen Schwarzen, auf dem Weg zu den Versuchungen Sohos, geschmückt mit einem Ohrring, in dem sich die Lichter der Clubs und Straßenlaternen bündeln. Ihr linkes Auge ist geschlossen, doch es ist nicht das von gnädiger Hand geschlossene Auge einer Toten, eher das hingebungsvoll geschlossene Auge der Genießerin. Isabels Ohrring ist das Zentrum der Verheißung; ihr Auge ist das Auge des Taifuns.
Das Schlüsselloch ist hoch oben, Isabel3 muss sich strecken, als wäre sie ein Kind. Die ganze Figur wirkt kindlich in ihren Bewegungen, ein quirliges Mädchen wirbelt durch den Raum. Ihr Gesicht jedoch ist alt; auf ihrem rechten Nasenloch klebt ein Tropfen Grün, unter ihren Lippen befindet sich kein Kinn, sondern der Totenschädel eines kleinen Raubtiers – vielleicht eines Marders oder eines Wiesels, aber mit den Ohren eines Plüschteddys. Aus ihren Achseln wachsen schwarze Gummischläuche, um die gegenläufigen Drehbewegungen von Ober- und Unterkörper zu kontrollieren, damit der Leib nicht in Bauchhöhe überdreht wird und auseinanderbricht. Bevor der Körper zerreißt, holen die Gummischläuche ihn wieder zurück, die Drehungen kehren sich in die Gegenrichtung: die Teile des Leibes als zwei aufeinandergeschraubte gegenläufige Kreisel. Nur die rechte Hand, der Vogelkopf mit dem Schlüssel im Schnabel, bleibt starr. Das Schlüsselloch hält den Schlüssel fest, der Schlüssel die Hand – erst vom Ellbogen abwärts wird alles Bewegung.
Und unter dem V-Ausschnitt des Pullovers von Isabel3 blitzt ein Pinselstrich Blau auf, ein Blau, das mir die wilden Hortensien auf São Miguel in Erinnerung rief; ein Strich Blau knapp oberhalb des Herzens, vorbeigewischt, federleicht hingeworfen, als wäre dem Maler ein kleiner Himmelskörper aus dem Ärmel gerutscht, ein hortensienblauer Handgelenkskomet, der aber sogleich dorthin stürzen
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