Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
hatte.
»Ja, tu das«, sagte ich schnell, bevor sie vor ihrer eigenen Kühnheit zurückschrecken konnte. »Unbedingt.«
»Ich ruf ihn morgen an«, sagte Maia.
»Was würde ich nur ohne dich tun«, sagte ich.
»Das darfst du jetzt mich nicht fragen«, sagte Maia.
Ich schaute aus dem Fenster. Noch ein roter Doppeldeckerbus. Nein, zwei davon. Zwei hintereinander! Jetzt war ich in Stimmung. Holte mir noch ein Bitter und bestellte Fish and Chips. Mit Essig. Und ein Sirloin Steak mit brauner Sauce.
Scotland Yard! Wenn das nicht London-Folklore war, was dann?
Ich fühlte mich hervorragend. Was immer auf mich zukam, es konnte losgehen.
III
Eine Verfolgung
April – Juli 2004
Eins
Naked Girl with Egg hieß das Bild. Das Modell lag hingestreckt auf einem mit einem braunen Tuch verhüllten Bett, ihr Kopf ruhte auf einem weißen Kissen. Vor ihr stand ein kleiner runder Tisch, darauf eine Schale mit einem in zwei Hälften geschnittenen Ei. Die Art, wie ihre Haut gemalt war, ließ den Körper durchsichtig erscheinen, die Venen und Arterien schimmerten in einem kaum fassbaren Blau unter der papierdünnen Hülle.
Die rechte Hand rührte an die rechte Wange, die linke Hand stützte die linke Brust; ihr Blick streunte ins Nirgendwo, aber die Züge ihres Gesichtes verrieten keine Trauer oder Melancholie; eher eine große Müdigkeit, vielleicht Erschöpfung. Und Gelassenheit. Der Eindruck war paradox: Die Pinselstriche, die ihre massigen Schenkel geformt hatten, schienen sie gleichzeitig zu liebkosen, als wäre das Fleisch schon zuvor auf der Leinwand gewesen, etwas, das schon immer da war, und der Maler hätte nur mit einem farblosen Pinsel ihre Haut gestreichelt, ohne etwas hinzuzufügen oder abzudecken. Nur um zu sagen, gräm dich nicht, wir leben, und wir müssen sterben, das ist alles.
Dieser Körper war weder romantisch geschönt noch voyeuristischen Blicken preisgegeben. Ich bin, was ich bin, sagte er. So ist es.
Die Widersprüche flogen mir nur so durch den Kopf, als ich vor dem Bild stand.
Ungeduldige Vorsicht. Unerbittliche Zärtlichkeit. Was war das Gegenteil von Sentimentalität? Empathie? Abgeklärtheit? Von einer Konspiration mit den Modellen hatte Freud gesprochen. »Ich muss sie in das Geschehen hineinziehen«, sagte er, »ich muss sie dafür gewinnen, mit mir zusammenzuarbeiten.« Fünfzig bis hundert Sitzungen mindestens. In Einzelfällen bis zu tausend. Bei Nachtsessions unter einer Fünfhundert-Watt-Birne. Kein Haar, kein Detail eines Fingernagels, keine einzige Pore sollte verlorengehen.
Und daneben der Vulkan Isabel Rawsthorne. Gemalt nach einer Schwarzweißfotografie von John Deakin, ohne eine einzige Sitzung. Wilde Konvulsionen neben einer entspannten Trägheit. Der Unterschied konnte kaum größer sein. Doch es gab etwas, das sie gemeinsam hatten. Ich sah Isabel an, schloss die Augen, drehte mich um neunzig Grad, betrachtete das Mädchen mit dem Ei. Ich konnte es nicht benennen. Las die Hinweistafel der Tate: Die Bedeutung des Eis sei unklar, wurde mitgeteilt, möglicherweise eine Hommage an Velázquez’ Old Woman Frying Eggs von 1620. Mir fiel dazu nur Bacons Spitznamen im Colony Room ein, den ihm die Chefin Muriel Belcher verpasst hatte: Eggs . Nur der erlauchte Kreis der Stammgäste durfte ihn so nennen, und Muriel achtete streng darauf, dass keiner der Neuankömmlinge sich im Ton vergriff. Wenn sie ihn gerade wieder besonders ins Herz geschlossen hatte, sagte sie zärtlich »Tochter« zu ihm, wie zu Beginn ihrer Freundschaft. War sie schlechter Laune, hießen alle Gäste ohnehin Cunty .
Wer Muriel am Eingang ihres Clubs auf einem Hocker hinter der Bar sitzen sah, in ihrem smaragdgrünen Kleid mit den goldenen Fäden, ihr Haar straff zurückgekämmt, das Kinn hochgereckt, Zigarette in der erhobenen Hand, ein Glas Champagner in der anderen, der konnte sich ihrer Anziehungskraft nicht entziehen. Sie war gleichzeitig lockende Sirene und Wächterin ihres Heiligtums. Bacon malte sie zweimal als Sphinx. Muriel zögerte keine Sekunde, Gästen, die ihr nicht genehm waren, ein durchdringendes »Nur für Mitglieder!« entgegenzuschleudern, aber wen sie akzeptierte, der hatte es in Soho geschafft. Es war wie ein Ritterschlag.
Ich spazierte im Saal umher – dieses Mal war ich der einzige Besucher – , ließ aber die Torbögen zu den beiden angrenzenden Sälen nicht aus den Augen. Einmal zuckte ich kurz zusammen: Da war ein grüner Schatten, der Saum eines Kleides, ein Schuh; nein, es
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