Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
wir es jemals erfahren würden.
Das Geschäft lief erstaunlich gut für die Jahreszeit. Maia rief einige Großkunden an, die sie in den vergangenen Wochen vernachlässigt hatte, und so war die Kunstabteilung des Maldoror an manchen Nachmittagen bevölkert wie die Vernissage eines Szenekünstlers. Mir gelang es leichter als sonst, mich von manch einer Erstausgabe zu trennen, was mir belustigte Blicke von Maia eintrug. »Wenn das so weitergeht, verscherbelst du noch das Familiensilber«, sagte sie, nachdem ich eine 1910er-Ausgabe des Malte Laurids Brigge ohne Zögern fremden Händen übergeben hatte.
Meine neue Gelassenheit verdankte sich vor allem meinem schlechten Gewissen. Beinahe hätte ich Maia in eine kriminelle Handlung verwickelt. Nun wollte ich ihr wieder ein seriöser Kompagnon sein – und ein seriöser Antiquar versteckt seine wertvollen Bestände nicht. Er verkauft sie.
Die Abende verbrachte ich allein. Manchmal standen wir zwar, nachdem wir das Geschäft abgeschlossen hatten, eine Weile ziellos auf dem Gehsteig herum und warteten beide auf ein Wort oder Zeichen des anderen. Aber schließlich ging dann doch jeder seiner Wege.
Zum ersten Mal seit zehn Jahren las ich wieder Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer. Meine dreibändige Erstausgabe wies leichte Gebrauchsspuren auf; der Einband war ein wenig lichtspurig und die Schuber geringfügig stockfleckig. Sonst ein tadelloses Exemplar. Als Student war dieser Roman für mich der höchste Gipfel der Prosa gewesen. Im jugendlichen Überschwang pflegte ich zu verkünden, dass kein deutschsprachiges Werk an ihn heranreiche. Ich kannte einige Stellen auswendig und zitierte sie bei passenden und weniger passenden Gelegenheiten, sei es, um einen Streitpartner in einer Diskussion zu entwaffnen, oder um eine Angebetete mit der verführerischen Schönheit dieser Zeilen zu beeindrucken.
Auch jetzt trafen mich die Sätze sofort. Es lag eine zarte Unerbittlichkeit in ihnen; eine Radikalität, die sich nicht auftrumpfend zu behaupten versuchte, sondern – eingebettet in eine fatalistische Melancholie – leise ihre unerhörte, unwiderlegbare Wahrheit wiederholte: Es ist, wie es ist. Eine hinfällige Welt, mit trostlosen Himmeln. »Angesichts einer Schöpfung, in der alle Geschöpfe fressen und gefressen werden, liegt die Vermutung nahe, dass auch der Urheber frisst.« Als ethische Grundsätze bleiben nur noch die »Barmherzigkeit mit den Tieren« und die »unablässige Verschwörung gegen den Lebenssinn der anderen«.
Die Liebe zwischen dem Komponisten Gustav Anias Horn und dem Leichtmatrosen Alfred Tutein, dem Mörder von Horns Verlobter Ellena, sprengt alle Konventionen, überschreitet die Körpergrenzen – und ist doch von einer Sanftheit und Innigkeit getragen, die ihr die Aura einer unerwarteten Unschuld verleiht. »Die Liebe, der wir zugeteilt werden, kennt keine Norm«, sagt Horn. »Sie ist immer der Abgrund in uns.« Am Ende flößt Tutein seinem Geliebten ein Betäubungsmittel ein, schneidet eine Wunde in seine Brust, trinkt sein Blut und stößt ihm die Finger in die Eingeweide, nur um mit dem Staunen eines Kindes sagen zu können: »Das bist du.«
Da es nichts gibt als das Fleisch, muss man es feiern. Rückhaltlos und ungezähmt. Tutein nennt es das »Experiment der Ausschweifung«. Es war verblüffend, wie sehr manche Passagen aus dem Fluß den Bacon-Interviews von Sylvester und Archimbaud ähnelten. »Alles entwischt einem«, sagt Bacon. »Selbst wenn du verliebt bist, entwischt dir alles. Du willst der geliebten Person näher sein – aber wie schneidet man sein eigenes Fleisch auf, um es mit ihrem zu verbinden? Es ist unmöglich.« Die Zurückweisung des Religiösen, die Betonung der fleischlichen, tierhaften Natur des Menschen, die anarchistische Pose, die Rebellion gegen den Common Sense: All das war bei Jahnn wie bei Bacon zu finden. Das Gespräch mit Sebastian fiel mir wieder ein. Was Bacon in den Interviews ablehnte, aber in seinen Bildern umso deutlicher sprechen ließ, war für Jahnn in Fluß ohne Ufer die höchste Lebensmaxime: Mitleid mit der Kreatur.
So las und grübelte ich vor mich hin und richtete mich ein in einem Alltag, der zwar ein wenig einsam war, aber wenigstens frei von Aufregung.
Bis ich eines Nachts im Internet auf die Kunstseite des Guardian geriet und eine Entdeckung machte, durch die sich die Illusion vom geruhsamen Leben wieder in Luft auflöste. Ich hatte aus einer Laune heraus »Bacon« und »Jahnn« als Suchbegriffe
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