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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Räume ersetzte er durch horizontale Linien, die das Zusammentreffen von Boden und Rückwand nur vage andeuteten. Auf der mittleren Tafel ließ er links und rechts von einer Art Podest die Leinwand nackt. Die offenere Umgebung, in der sich die Furien dadurch bewegten, mochte die Qualen des Eingesperrtseins, die sie zu erdulden hatten, milder erscheinen lassen – das Grauen, das von ihnen ausging, war um nichts weniger bedrohlich. Die zwischen Leichenweiß, Hellrot und dem Grau von verdorbenem Fleisch changierenden Farben ihrer Körper verliehen ihnen eine beklemmende Präsenz. Als ich in Basel vor dem großen Triptychon gestanden war, hatte mich eine seltsame Sinnestäuschung heimgesucht. Immer, wenn ich mich in die Betrachtung einer der Eumeniden vertieft hatte, hätte ich schwören können, aus den Augenwinkeln eine Bewegung einer der beiden anderen wahrzunehmen.
    Im Februar 1989, bevor die Second Version ihre Amerikareise antrat, wurde sie in der Marlborough Fine Art in London gezeigt. Dem Kunstkritiker des Daily Telegraph , Richard Dorment, müssen die Geschöpfe kalte Schauer über den Rücken gejagt haben. »Hier gibt es etwas«, schrieb er, »das überlegter, absichtlicher, vorsätzlicher ist als Verzweiflung. Etwas Brutales, das reine Böse.« Als Daniel Farson mit Bacon telefonierte und die Stelle aus dem Telegraph zitierte, lachte Bacon und sagte: »Ja, ich finde sie selbst auch ganz nett .«
    Im letzten Jahr seines Lebens widerfuhr Bacon noch etwas für ihn ganz Außergewöhnliches: Er entdeckte einen zeitgenössischen Künstler, der ihm gefiel. Dafür fanden sich in seinem Atelier zwei Belege: ein Zeitungsausschnitt und ein Brief. In einer Rezension des Independent vom 10. März 1992 zu einer Gemeinschaftssausstellung der Young British Artists hatte Bacon einige Zeilen mit Bleistift eingeklammert, in denen das Werk The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living – ein vier Meter langer Tigerhai in Formaldehyd – gepriesen wurde. »Der Hai«, so Anthony Graham Dixon, »ist eines der seltenen Werke (und es erfüllt damit eine Forderung Francis Bacons an ernsthafte Kunst), die primär das Nervensystem und erst sekundär den Verstand ansprechen.« Möglicherweise geschmeichelt von der Erwähnung seines eigenen Namens, besuchte Bacon die Ausstellung und schrieb ein paar Tage später in einem Brief an den irischen Künstler Louis le Brocquy: »In der Saatchi-Sammlung gibt es die hochinteressante Installation eines jungen Mannes, betitelt A Thousand Years , mit einem Kuhkopf in einem Kasten und Fliegen, die diesen Kuhkopf umschwirren, in einem anderen. Es funktioniert tatsächlich.« Der junge Mann, Damien Hirst, blieb der einzige Künstler seiner Generation, dessen Werk von Bacon lobend erwähnt wurde.
    Hirsts Stern war 1988 aufgegangen, als er gemeinsam mit anderen Kunststudenten am Goldsmiths College die Ausstellung Freeze kuratierte und organisierte, die Werke von sechzehn Künstlern im leerstehenden Port of London Authority Building präsentierte. Freeze wurde schnell zum Londoner Stadtgespräch; der Mäzen und Sammler Charles Saatchi kaufte die wichtigsten Werke und nahm die Künstler unter seine Fittiche. Er erfand später den Namen Young British Artists und löste einen weltweiten Boom der Arbeiten von Hirst, Tracy Emin, Sarah Lucas, Fiona Rae, Rachel Whiteread & Co. aus. Die Gruppenausstellung Sensation in der Londoner Royal Academy, 1997 von der britischen Presse gefeiert, wurde zwei Jahre später in New York um ein Haar verboten, als sich herumsprach, dass Chris Ofili ein mit Elefantendung gemaltes Porträt einer schwarzen Frau mit dem Titel The Holy Virgin Mary ausstellte. Religiöse Eiferer, allen voran die Katholische Liga für religiöses Recht, liefen Sturm gegen die Schau, und selbst Bürgermeister Rudolph Giuliani drohte dem Brooklyn Museum of Art mit der Streichung sämtlicher Subventionen.
    1988 war also auch das Geburtsjahr der legendenumrankten Brit-Art, und der glühende Bacon-Verehrer Damien Hirst gilt heute als der teuerste lebende Künstler der Welt.
    Nicht auszuschließen allerdings, dass das mir sonst so fremde Gefühl, die Welt sei durchwirkt von geheimnisvollen Zusammenhängen, von der Tatsache beeinflusst war, dass ich im Jahr 1988 Isabel getroffen hatte.
    Zwei aufgestellte Unendlichkeiten, traulich nebeneinander.

 
    Neunzehn
     
    Es war im August 1988, ich war 33 und freier Assistent am Wiener Germanistik-Institut. Die Kargheit meiner regulären Entlohnung

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