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Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Bacons Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Bacons Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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zwang mich dazu, auch im Sommer zu arbeiten. In diesem Jahr handelte es sich um ein Projekt über Hermann Broch. Mein Forschungsinteresse galt dem Schlusskapitel des Romans Der Tod des Vergil . Da ich jede Gelegenheit nutzte, während der heißen Monate nicht in Wien sein zu müssen, suchte ich nach einem Ort, an dem ich in Ruhe arbeiten und mich doch zwischendurch sommerlichem Müßiggang hingeben konnte. In einem Aufsatz las ich, dass Broch zwischen 1936 und 1938 viele Monate im steirischen Luftkurort Altaussee verbracht hatte. »Die hiesige Gegend«, hatte er in einem Brief an eine Freundin geschrieben, sei »von einer unmoralischen Lieblichkeit.« Vom Institutsvorstand erfuhr ich dann noch, dass die Wiener Germanistik mit einem Altausseer Hotel zusammenarbeitete, das Mitarbeitern günstige Konditionen gewährte. Im Gegenzug organisierte das Institut Lesungen und Vorträge im Literaturmuseum von Altaussee.
     
    Der Ort lag auf über 700 Meter Seehöhe im steirischen Salzkammergut. Bei der Anreise über einen Pass stiegen aus der Kühlerhaube meines alten Renault beunruhigende Rauchwölkchen auf, und ich verfluchte schon meinen Sommerplan. Als ich dann aber bei mildem Abendlicht im Ort ankam und zum ersten Mal sah, wie sich die orange und hellrot leuchtenden Bergrücken des Loser und der Trisselwand im reglosen Wasser spiegelten, war ich wieder mit mir versöhnt.
    An einer Bucht, versteckt hinter einem größeren und edleren Hotel, lag das Hotel Seehof. Es war renovierungsbedürftig und verfügte nur über acht Zimmer. Die waren allerdings geräumig und bestens ausgestattet. Von meinem Balkon aus bot sich ein beeindruckender Blick über den blaugrün schimmernden See bis hin zum Hohen Dachstein. Mit einem kühnen Sprung hätte man von der Brüstung direkt ins Wasser springen können.
    Ich packte aus und verteilte meine Bücherstapel, Notizhefte und Skripten im Zimmer. Nach dem  Verzehr von zwei mitgebrachten Sandwiches vertiefte ich mich bis in die Nacht hinein in die irrlichternden Bilder der Totenreise Vergils. Unter einem Himmel, an dem die Sonne und die Sternbilder gleichzeitig sichtbar waren, folgte der Dichter in seinem Nachen dem umgekehrten Weg der Evolution, verwandelte sich die Welt um ihn herum von einem Tier- zu einem Pflanzen-All, wurde mineralisch, durchstrahlt von leblosem kristallischem Glanz, dann zu reinem, flüssigem Licht; am Ende zu einem einzigen Wort jenseits der Sprache .
    Obwohl ich die Passage schon so oft gelesen hatte, erfüllte sie mich wieder mit Staunen, und ich schrieb ein ganzes Notizheft mit Anmerkungen, Kommentaren und Querverweisen voll, bis mir vor Erschöpfung die Augen zufielen.
     
    Noch unrasiert und ein wenig verspätet kam ich am nächsten Tag zum Frühstück auf die Hotelterrasse. Wo die Sonnenstrahlen auf den weißen Kies der Uferböschung trafen, leuchtete der See in einem überirdischen Türkis. Die Tische waren schon für das Mittagessen gedeckt. Am anderen Ende der Terrasse saßen ein Mann in einer kurzen Lederhose und eine Frau in einem Dirndlkleid. Ihrer Tracht nach zu schließen, mussten sie von hier sein. Vermutlich Nachbarn oder Freunde des Hauses.
    Die Kellnerin erschien. Ihre kastanienbraunen Haare fielen ihr in die Stirn und über die Schultern; sie trug schwarze Jeans und ein Bad-Religion -T-Shirt. Die Geldtasche war um ihren Gürtel geschnallt wie ein Colt. Offenbar eine Ferialpraktikantin. Sie ging an mir vorüber und stellte sich schweigend vor das Pärchen. »Wir hätten gern«, sagte der Mann in breitem Nobelviertel -Wienerisch, »zweimal den Altausseer Saibling.«
    Die Kellnerin kritzelte etwas auf ihren Block.
    »Ist der auch wirklich aus dem See?«, fragte der Mann.
    »Aus einer Zucht aus der Traun«, sagte die Kellnerin, ohne aufzublicken.
    »Ach«, sagte der Mann, »also nicht aus dem See?«
    »Gefischt wird nur dienstags und freitags«, sagte die Kellnerin.
    Die Frau zupfte die Ärmel ihres Kleides zurecht. Im Tonfall maßloser Enttäuschung sagte sie: »Dann nehmen wir den Zander.«
    Die Kellnerin drehte ab und kam auf mich zu.
    »Sie auch Fisch?«, zischte sie.
    »Nein, nein«, sagte ich, »ein Frühstück wäre mir lieber.«
    Ihre Züge entspannten sich.
    »Gesindel«, sagte sie, nahm die Karte von meinem Tisch, schlug sie an der richtigen Stelle auf und gab sie mir zurück. »Kaum stecken sie in unserer Tracht, glauben sie schon, sie können uns herumkommandieren.«
    »Unserer?«, fragte ich. »Ich hätte Sie auf den ersten Blick nicht

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