Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
Schultern. »Oh ja«, sagte ich ein wenig zu laut.
Sie setzte sich auf die Bank und winkte mich zu sich. Ohne Zögern ging ich zu ihr und ließ mich an ihrer Seite nieder.
»Du brauchst dringend Erholung von deinem Kopf«, sagte sie.
»Instinct keeps me running«, sang Iggy Pop.
»Jetzt kommt auch noch die Venus«, sagte Isabel und zeigte auf einen hellen Lichtfleck über dem Hügel. Doch die Venus interessierte mich nicht. Mich interessierte nur Isabel. Ich schaute sie an, als müsste ich mir vor einem langen Abschied ihr Gesicht und ihre Gestalt einprägen. Sie hatte sich die Haare lose hochgesteckt. In ihrem Nacken kräuselte sich ein zarter Flaum. Hin und wieder strich sie mit den Fingerkuppen der rechten Hand leicht darüber hin.
Allein der Anblick dieser Geste machte mich wehrlos.
»Honey, I’m the world’s forgotten boy«, sang Iggy.
»Lass uns tanzen«, sagte Isabel. Ich erhob mich ein wenig zittrig und sah uns schon in wilde Zuckungen verfallen, um den Gitarrenriffs Tribut zu zollen. Doch Isabel entpuppte sich als der einzige Mensch der Welt, der zu Iggy Pop einen Slowfox tanzen konnte.
Als ihre Wange an meine streifte, schoss flüssige Hitze durch die Äderchen meiner Gesichtshaut, bis in die letzte Verästelung hinein. Von außen musste man ein Lichtgestrüpp auf meinen Wangen brennen sehen.
»I’m getting high on you«, sang Iggy.
Eine Erinnerung für alle Zeiten: die leichte Neigung ihres Kopfes vor dem ersten Kuss. Ihre Zunge fühlte sich kühl an und schmeckte nach Orangen. Ein Bild aus Kindertagen überfiel mich. Ich stand an einem italienischen Strand, mit einer Plastikorange in der Hand, die mit Wassereis gefüllt war. Nichts auf der Welt konnte besser schmecken als dieses Orangeneis.
»No fun«, sang Iggy.
Meine Hand strich noch über ihren Rücken, als Isabel schon lange eingeschlafen war. Es war nicht wie sonst – Zärtlichkeit, um dem anderen ein wohliges Gefühl zu bereiten. Ich tat es nur um meiner Hand willen – oder besser: Meine Hand tat es ganz alleine; selbst wenn mein Gehirn ihr befohlen hätte aufzuhören, wäre sie immer weiter und weiter um Isabels Schulterblätter gekreist, wäre immer weiter den Nacken hinauf und hinunter gestrichen; es war eine Anziehungskraft, die nicht zu beherrschen war. Meine Hand war von Isabels Rücken angesaugt worden, und dort musste sie nun bleiben. Die Linien, die meine Finger auf ihre Haut zeichneten, folgten Gesetzen wie die Muster von Eisenspänen an einem Elektromagneten; es war nichts Beabsichtigtes, nichts Spontanes mehr an ihnen. Doch selbst wenn es die ganze Nacht lang so weiterginge, würde ich nicht eine Sekunde lang in Versuchung kommen, meinen freien Willen zu vermissen.
Die Arbeit über Hermann Broch wurde nie fertig. Ich habe jedoch die letzte noch angefangene Seite gerahmt und in mein Arbeitszimmer gehängt.
Nach der Scheidung entdeckte ich in einem Roman von Wilhelm Genazino die dazupassende Anrufung des Mondes, gleichsam die Schwundstufe der Mondmetapher. Sie lautete: Der Mond wäre jetzt schön, aber er ist nicht zu sehen .
Sie stand auf Seite 88.
Zwanzig
»Das Langweiligste«, sagte Lucian Freud zu Sebastian Smee, »was man über ein Kunstwerk sagen kann, ist, finde ich, dass es zeitlos ist. Das löst so etwas wie Panik in mir aus. Der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, wenn das Werk augenblicksgebunden ist, erscheint mir verrückt.« Das erste von Bacon gemalte Bild, das Freud in dessen Atelier sah, war Painting 1946 , das später vom New Yorker Museum of Modern Art erworben wurde. Freud nannte es »das mit dem Regenschirm« und fand es »absolut fantastisch«. Er erzählte, dass er Bacon über Jahre hinweg beinahe jeden Tag getroffen hatte – manchmal in seinem Atelier, manchmal im Wheeler’s , bei Muriel oder im Casino. Erst als Bacon sich in Peter Lacy, einen ehemaligen Jagdflieger der Royal Air Force, verliebte, begann die Freundschaft mit Freud abzukühlen. Lacy war sexuell ein Sadist, was Bacon gefiel. Er schlug ihn mit den Fäusten und verschiedensten Gegenständen; häufig waren sichtbare Verletzungen die Folge. »Einmal«, sagte Freud, »als ich Francis sah, war eines seiner Augen geschwollen, und er hatte überall Wunden. Ich war so wütend, ihn so zu sehen, dass ich den Jagdflieger am Kragen packte und schüttelte. Ich habe das Ganze überhaupt nicht verstanden. Jedenfalls habe ich danach drei oder vier Jahre nicht mit Francis gesprochen. Die Wahrheit ist, dass Francis an diesem Mann
Weitere Kostenlose Bücher