Bahners, Patrick
bitten würde, Sarrazin zu entlassen. Am Mittwoch, dem 1.
September, dem Tag von Schäubles klaren Worten, ließ Wulff die Presse unter
Verweis auf seine möglicherweise bevorstehende amtliche Befassung mit der Sache
darüber unterrichten, dass er sich «im Moment» nicht äußern wolle. Schon diese
Mitteilung war unklug. Man konnte sie so verstehen, dass er den Eingang eines
Briefs aus Frankfurt erwartete, zumal er eine Äußerung für die Zukunft in
Aussicht stellte. Wenn das Staatsoberhaupt von jemandem ein Handeln erwartet,
kommt das einer Bitte gleich.
Der Satz, den Wulff dann am Abend desselben Tages in
seiner leutseligen Art in ein Mikrophon des Fernsehsenders ntv sprach, wurde
allseits als Aufforderung an den Bundesbankpräsidenten Weber verstanden: «Ich
glaube, dass jetzt der Vorstand der Deutschen Bundesbank schon einiges tun
kann, damit die Diskussion Deutschland nicht schadet - vor allem auch
international.» Der ehemalige Nachrichtensender, der seine Sendezeit mit der
Wiederholung von Reportagen über Wunderwerke der Ingenieurskunst füllt, hatte
plötzlich seine Nachricht, und Sarrazins Anhänger hatten ihren Oberschurken.
Wulffs Sprecher unterließ jede Schadensbegrenzung, versuchte erst gar nicht,
der Presse die Sprachregelung nahezulegen, es könne nicht die Absicht des
Präsidenten gewesen sein, das Entlassungsgesuch zu bestellen - er müsse also
etwas anderes gemeint haben, habe der Bundesbankspitze nahelegen wollen, sich
«jetzt schon», unabhängig von einem etwaigen Entlassungsverfahren, durch
öffentliche Erklärungen von Sarrazin abzusetzen. Es war richtig, dass die
führenden Parteipolitiker als zweifellos zuständige Adressaten eines Aufrufs
zur Rettung Deutschlands in aller Deutlichkeit sagten, was sie von Sarrazins
Diagnosen und Rezepten hielten. Seit der Interview-Affäre lagen Sarrazins
Unterstützer in Wartestellung, um den ehemaligen Spitzenbeamten, zeitweiligen
Spitzenpolitiker und nunmehrigen Spitzenmanager zum Opfer der politischen
Klasse auszurufen. Bundesbankchef Weber hatte es damals vermieden, die
Maßregelung Sarrazins, dem der Vorstand einen Teil seiner Zuständigkeiten
entzog, mit einer öffentlichen Erklärung zu den Einzelheiten des Interviews zu
begründen. Hätten die Politiker nach der Veröffentlichung des Buches den Unsinn
nicht Unsinn genannt, wäre die Parole ausgegeben worden, sie könnten Sarrazin
nichts erwidern.
Es war ihnen auch nicht vorzuwerfen, dass sie sich auf die
im «Spiegel» und in der «Bild»-Zeitung abgedruckten Auszüge stützten. Solche
Vorveröffentlichungen werden gewöhnlich zwischen Autor, Verlag und Presseorgan
Satz für Satz abgesprochen, um die Kernbotschaft eines Buches unters Volk zu
bringen. Die Schärfe der sachlichen Auseinandersetzung hätte aber mit
penibelster formaler Korrektheit im Umgang mit der Person Sarrazins einhergehen
müssen. Fatal war, dass der Eindruck entstand, nur durch politischen Druck habe
Sarrazin aus dem Amt entfernt werden können, der Bundespräsident selbst habe
sich dazu herbeigelassen, Sarrazin ein faires Verfahren zu verweigern.
Sarrazins Sympathisanten fanden Anklang, als sie verbreiteten, die Politiker
wollten über das Buch deshalb nicht diskutieren, weil es randvoll mit
unwillkommenen Wahrheiten sei. Die Kanzlerin wurde als Zensorin hingestellt.
Sie hatte ihre Anhänger als Erwachsene behandelt und offenkundig überschätzt.
Es lag auf der Hand, wie ihr «Nicht hilfreich» gemeint
war: als politische Aussage. Die Knappheit ihrer Stellungnahme sollte nicht
Leser kränken, die sich auf den brisanten Schmöker freuten, oder
Nachahmungstäter unter den geschichtsphilosophisch ambitionierten Volkswirten
im Staatsdienst abschrecken. Das Bündige des Urteils war die Botschaft. Angela
Merkel hat nicht viel Zeit. Die Bürger mögen sich wünschen, dass sie liest,
werden aber erwarten, dass sie außerhalb der tiefen Abendstunden nur das Nötige
liest. Und wenn sie wissen möchte, was aus einer Neuerscheinung für die
Regierungsarbeit zu lernen sein könnte, darf sie auch lesen lassen. Sollten
ihre Zuarbeiter beim Zusammenfassen eines Buches etwas Hilfreiches übersehen
haben, würde das Malheur ihr zugerechnet werden. Das ist eines der kleineren
Risiken ihres Jobs. Nicht hilfreich: Damit wollte die Kanzlerin sagen, dass sie
eine Diskussion unter Sarrazins Prämissen oder über Sarrazins Prämissen für
Zeitverschwendung hielt. Über eugenische Maßnahmen zur Korrektur einer durch
Einwanderung eingetretene
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