Bahners, Patrick
Verdummung Deutschlands konnte man nicht ernsthaft
reden. Eine Sarrazin-Debatte musste eine Scheindebatte sein. Im Grundsätzlichen
der Integrationspolitik hätten die Politiker nur den Willen bekunden können,
den sie so oft bekundet haben, dass man an der Ernsthaftigkeit nur zweifeln
kann, wenn man ihnen gar nicht trauen will. In den Einzelheiten hätten sie
ständig trennen müssen zwischen denkbaren pragmatischen Gründen für bestimmte
sehr weitgehende Maßnahmen und den abstrusen Züchtungszwecken des Autors.
Politikerstreit ohne Dissens
Was ist Integration? Erwünscht ist die effektive und
produktive Teilhabe der Einwanderer und ihrer Kinder am gesellschaftlichen
Leben. Mit der Zeit soll es keinen Unterschied in der Chancenverteilung mehr
ausmachen, ob jemand von Einwanderern abstammt oder aus einer alteingesessenen
Familie stammt. Diesen Prozess, dessen Gelingen sich auf dem Arbeitsmarkt
entscheidet, nennt der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser strukturelle
Integration. Begünstigt wird die Qualifikation für beliebige Berufe und
Bildungsabschlüsse durch Beweglichkeit, Neugier und Engagement in dem Feld, das
bei Esser soziale Integration heißt. Es kommt auf soziale Kontakte in die Mehrheitsgesellschaft
an, auf Identifikation mit dem neuen Heimatland und vor allem auf Kenntnisse
der Landessprache. In der soziologischen Forschung ist ein aufwendiger Streit
über die Frage ausgetragen worden, ob die Herstellung von Chancengleichheit auf
die Angleichung des Verhaltens der Zugewanderten an die Usancen des Aufnahmelandes
angewiesen ist oder ob die Homogenität ethnischer Kolonien entgegen dem
Augenschein die Integration fördert, indem sie den Migranten mit eigenen
milieuspezifischen Kontakten und Fertigkeiten ausstattet. Es gibt den
Multikulturalismus als wissenschaftliche Position. Dieser wissenschaftlichen
Debatte entspricht in Deutschland aber kein Streit der politischen Konzepte.
Obwohl die Politiker nicht gern von Assimilation sprechen, um den Stolz der Einwanderer
auf ihre Herkunftswelt nicht zu verletzen, betreiben die Regierungen aller
Farbmischungen Integrationspolitik in Übereinstimmung mit der Theorie Essers.
Im Zentrum steht überall die Förderung des Deutschlernens. Alltagsvernunft und
historische Erfahrung geben Esser recht, wenn er vor einer
Infrastrukturpolitik des Multikulturalismus warnt: Der Staat darf keine
zusätzlichen Anreize dafür schaffen, dass Eingewanderte unter sich bleiben,
weil ethnische Segregation mit vertikaler Segmentierung einhergeht. Eine
türkische Minderheit in Deutschland, die ihre Netzwerke auf Kosten der Verbindungen
in die deutschsprachige Umwelt kultivierte, wäre ökonomisch womöglich durchaus
lebensfähig, aber um den Preis der dauerhaften Selbstbeschränkung auf niedere
Tätigkeiten.
In keinem anderen Politikfeld ist die Diskrepanz so
eklatant zwischen der Einigkeit in den Zielen, die als alternativlos erkannt
worden sind, und der Systemlogik des Parteigegensatzes, die trotzdem auf die
Kontroverse hindrängt. Integrationspolitischer Parteienstreit erschöpft sich
meist im ermüdenden Ritual der polemischen Vergangenheitsbewältigung. Die
Linke beschuldigt die Rechte, die Tatsache geleugnet zu haben, dass Deutschland
ein Einwanderungsland sei. Die Rechte macht der Linken wegen multikultureller
Illusionen den Prozess. Vor Wahlen wird gelegentlich geäußert, die
Ausländerpolitik eigne sich nicht als Wahlkampfthema. Auf solche Aufforderungen
zur Nicht-Thematisierung - ein anderes Beispiel ist der Einsatz der Bundeswehr
in Afghanistan - reagiert das Publikum allergisch. Mit Recht. In der Demokratie
kann nun einmal alles zur Diskussion und zur Abstimmung gestellt werden.
Politiker, die den Wählern nicht zutrauen, der Verführung durch Demagogen zu
widerstehen, beschädigen die Geschäftsgrundlage. Die Forderung, etwas nicht
anzusprechen, ist ohnehin ein Widerspruch in sich. Das merken sich die Leute,
und wenn bei nächster Gelegenheit ein Sarrazin behauptet, eine offene
Diskussion werde verhindert, können sie ihm nicht ohne Vorbehalt widersprechen
oder stimmen ihm sogar zu. Ein ergiebiger integrationspolitischer Streit, ein
Streit über Alternativen, müsste sich allerdings um die Mittel drehen. Wenn
die Deutschkenntnisse der Kinder schicksalhafte Bedeutung haben, was sind sie
uns dann wert? Mit Ausgabenprogrammen macht aber keine Partei Wahlkampf.
Türken haben gegenüber anderen Einwanderern einen
erheblichen Rückstand bei den Bildungserfolgen und
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