Bahners, Patrick
der Integration in den
Arbeitsmarkt. Das ist eine Tatsache. Politiker verschweigen diese Tatsache
nicht. Das ist auch eine Tatsache. Die gesetzlichen Änderungen beim
Ehegattennachzug, die das Mindestalter von achtzehn Jahren und den Nachweis
einfacher Deutschkenntnisse vorschreiben, zielen auf Türkinnen und wurden
gegen den erbitterten Widerspruch sowohl deutschtürkischer Vereine als auch
der türkischen Regierung durchgesetzt. Dass Einstellungen sich ändern sollen, wird
ebenfalls ausgesprochen. Die Einwanderer werden nicht als Automaten behandelt,
als bloße Objekte der Fürsorge. Die Islamkonferenz hatte ihren politischen
Daseinsgrund in dem Faktum, dass Türken den allergrößten Teil der Muslime in
Deutschland bilden. Die Regierung bewegte sich hart an der dem religiös
neutralen Staat gezogenen Grenze, als sie durch Beratungen mit
unrepräsentativen Repräsentanten - darunter fallen die Verbandsvertreter
ebenso wie die Schriftstellerinnen - zu sondieren versuchte, welche Momente
muslimischer Mentalitäten womöglich die Eingliederung beschwerlicher machen.
Als die Türkische Gemeinde in Deutschland e.V., eine laizistisch orientierte
Lobbyorganisation, im Juni 2010 in Berlin ihren fünfzehnten Geburtstag feierte,
sagte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit in seinem Grußwort: «Man
muss sich auch integrieren lassen wollen. Sonst wird es nicht funktionieren.»
Und Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, verband
ihren Glückwunsch mit der Forderung, türkische Kinder müssten in den
Elternhäusern besser auf die Schule vorbereitet werden.
Konnte es denn wirklich schaden, das Erscheinen von
Sarrazins Buch zum Anlass zu nehmen, bekannte integrationspolitische Ziele noch
einmal zu bekräftigen? Ja, in dem von Sarrazin vorgegebenen Setting musste es
schaden. Sarrazin hätte entsprechende Programmsätze nicht als Bekräftigung von
Bekanntem, sondern allenfalls als Eingeständnis von Versäumnissen begrüßt. Man
hätte sich auf Sarrazins Spiel eingelassen, hätte ihm den Nimbus des
Aufklärers zugestanden und der Legende, die Integrationsproblematik sei als
Geheimsache behandelt worden, ein amtliches Siegel aufgedrückt. Sarrazins
Kritik der Politik geht aufs Ganze, beschwört eine revolutionäre Situation
herauf, indem sie als Sprachkritik auftritt, als Kritik der «politischen
Korrektheit». Unter diesem Feldzeichen sammeln sich heute alle, die das
politische System und die mit diesem verbundenen Institutionen für eine
Verschwörung der Herrschenden halten. Die meistgelesene Internetseite der
Islamhasser heißt «Politically Incorrect». Die «politische Korrektheit» und die
«Mainstream-Medien»: Das sind Chiffren einer radikalen Hermeneutik des
Verdachts, die eine ähnliche Funktion haben wie in der Weimarer Republik die Hetzparolen
vom «System» und den «Systemparteien». Es war für Bundesminister und
Parteivorsitzende ein Gebot der Selbstachtung, sich nicht mit einem
Ex-Politiker gemein zu machen, der seine früheren Berufsgenossen der
Verlogenheit und des Zynismus bezichtigte.
Die Bundeskanzlerin konnte sich kurz fassen, denn sie
hatte schon im Juni 2010, nachdem Sarrazin auf einer Veranstaltung in Darmstadt
den Arbeitskreisen Schule und Wirtschaft der Unternehmerverbände Südhessen
einen Einblick in die Ergebnisse seiner Forschungen gewährt hatte, das Nötige
gesagt. In seinem Vortrag mit dem Titel «Bildung, Demographie,
gesellschaftliche Trends» führte Sarrazin aus, es gebe «eine unterschiedliche
Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz». Die Bildung
bei Einwanderern «aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika»
setzte er niedrig an, den Erbanteil an der Intelligenz um so höher, bei nahezu
80 Prozent. Einschüchternde Zahlenkolonnen marschierten auf die unerbittliche
Schlussfolgerung zu: «Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich
dümmer.» Frau Merkel überließ es nicht ihrer für Integration zuständigen
Staatsministerin oder ihrem Sprecher, Sarrazin wegen dieser von der Deutschen
Presseagentur verbreiteten Aussagen zurechtzuweisen. Gegenüber der «Bild am
Sonntag» erklärte sie: «Ich sage: Solche schlichten Pauschalurteile sind dumm
und nicht weiterführend.»
Westerwelle als Wetterfahne
Pathetisch setzt sich Sarrazin in seinem Buch als ein Mann
in Szene, der schlichte Sachverhalte in einfachen Worten darlegt. Recht weitschweifig
erläutert er sein Ideal des ökonomischen Stils: «Ich
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