Bahners, Patrick
der
gemeinschaftlichen Herkunft. Nun tritt aber der Verfasser von «Deutschland
schafft sich ab» mit dem Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit auf. Es soll
ein nationales Unglück sein, dass die Vergangenheitsbewältigung die mit
Einwanderung befassten Politiker davon abgehalten habe, sich mit den
Mendelschen Gesetzen zu befassen. Wenn wir aber Nachhilfeunterricht in
angewandter Genetik benötigen, dann muss man erwarten, dass der Präzeptor die
gegenständliche und die metaphorische Aussageebene trennt und markiert - und
dass er weiß, was ein Gen ist und wie es vererbt wird. Mit der Ein-Gen-Theorie
überschritt Sarrazin die Grenze, hinter der das Land des offensichtlichen
Unsinns beginnt. Und wer ihm bis dahin gefolgt war, mochte im Rückblick
bemerken, dass man schon weite Felder des Unsinns durchmessen hatte. Schäuble
trog sein Gespür für das treffende Wort nicht. Damit erledigte sich eine
Sarrazin-Debatte unter der verharmlosenden Prämisse, man müsse Ton und Sache
trennen, weil an den Tatsachen nicht zu rütteln sei und der Kopfwerker ein
Musterstück autodidaktischer Wertarbeit abgeliefert habe. Aber da Sarrazin den
Satz über Juden und Basken korrigierte, wurde er aus dem Niemandsland jenseits
der roten Linie heimgeholt in die Fernsehstudios, unter dem Geleitschutz des
Bundesaußenministers.
Das F.A.Z.-Interview, in dem er sich aus der
Kabinettssolidarität der Sarrazin-Kritiker davonstahl, nutzte Westerwelle auch,
um zum Bundespräsidenten auf Distanz zu gehen. Auf die Frage, ob er die
Auffassung teile, dass der Islam zu Deutschland gehöre, sagte er: «Der Islam
ist Teil der gesellschaftlichen Realität Deutschlands. Unsere kulturelle
Wurzel ist die christlich-jüdische Tradition.» Da ging es also schon wieder um
jüdische Abstammung, aber in botanischer Variante und von vornherein
metaphorisch. Deshalb war die Angelegenheit nicht weniger unappetitlich.
Christlich-jüdische Tradition? In der längsten Zeit der deutschen Geschichte
konnten die Juden von Glück reden, wenn die Christen sie in Frieden ließen, als
Untertanen zweiter Klasse, in separate Wohnviertel eingesperrt, mit besonderen
Steuern belegt und von den Gewerben ehrlicher Leute ausgeschlossen. Was
Christen lasen, lehrten und tradierten, beruhte auf dem Gedanken, dass die
christliche Botschaft an die Stelle des jüdischen Gesetzes getreten sei und
die Juden verstockt seien, weil sie das nicht akzeptieren wollten. Die
Emanzipation der Juden wurde von den Liberalen in der Erwartung betrieben, die
Juden würden ihre Überzeugungen und Bräuche aufgeben und in der christlichen
Gesellschaft verschwinden. In dieser Assimilation wollten dann aber die
Antisemiten die Tarnung von Verschwörern sehen, die es auf die Machtübernahme
abgesehen hätten. Dass die Hetzreden von der verjudeten Kultur auch bei Gebildeten
Resonanz fanden, ist eine der Ursachen dafür, dass schließlich die Vernichtung
der Juden Staatszweck Deutschlands werden konnte und beinahe zum Abschluss
gebracht worden wäre. Den paar überlebenden Juden nachträglich eine
Garantenstellung für den Gang der deutschen Kulturgeschichte zuzuweisen ist
eine monströse Geschmacklosigkeit.
Die Retortenzüchtung der Schimäre dient einem
Ad-hoc-Zweck, den jedermann durchschaut. Christlich-jüdisch, lies: nicht
islamisch. So ausdrücklich der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach in der
«Bild»-Zeitung: «Zwar ist der Islam inzwischen Teil der Lebenswirklichkeit in
Deutschland, aber zu uns gehört die christlich-jüdische Tradition.» Dass
Christdemokraten, wie der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf spottet,
das Grundgesetz taufen (und zur Sicherheit auch beschneiden) wollen, mag nicht
verwundern. Aber warum spielt der FDP-Vorsitzende dabei den Messdiener? Ein
Liberaler könnte doch daran erinnern, dass der säkulare Staat einerseits für
Fromme jeglicher Obödienz eine Zumutung ist und dass das Recht andererseits nur
die äußeren Handlungen koordiniert und den inneren Menschen unbehelligt lässt.
Wo die Furcht umgeht, die Republik werde absterben, weil die rechte Gesinnung
nicht mehr nachwachse, vermag die Auskunft des liberalen Kirchenvaters Kant zu
beruhigen, dass selbst ein Volk von Teufeln nicht ohne Staat auskäme. Einem
lebenslangen Berufspolitiker wie Westerwelle fehlt wahrscheinlich die innere
Freiheit gegenüber dem Staat, um ihn als sinnreiche Einrichtung und nützliches
Ding zu beschreiben, als Mittel und nicht als Inhalt des guten Lebens.
Westerwelle ist Mitglied der
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