Bahners, Patrick
hätte abschrecken müssen, die Verdopplung
des Vorbildlichen, das zur Definition der Kultur schon gehört, durch die
auftrumpfende Vorsilbe. Einstweilen ist die Prägekraft der christlichen Tugend
der Dezenz noch so stark, dass noch kein Leitkultur-Kongress zu Papier gebracht
hat, worum die Debatte insgeheim kreist: eine Theorie der inneren Barbaren.
Auch der Parteivorstand der CDU brachte mit seinem Leitantrag über die
Leitkultur für den Karlsruher Parteitag im November 2010 kein echtes
leitwölfisches Zähnefletschen zustande: «Unsere kulturellen Werte, geprägt
durch die Philosophie der Antike, die christlichjüdische Tradition, die
Aufklärung und historischen Erfahrungen sind die Grundlage für den
gesellschaftlichen Zusammenhalt und bilden die Leitkultur in Deutschland, der
sich die CDU besonders verpflichtet weiß.» Der Nachsatz klingt erst recht nach
einer Kreidemahlzeit: «Wir erwarten von denjenigen, die zu uns kommen, dass sie
diese respektieren und unter Wahrung ihrer persönlichen Identität auch anerkennen.»
Wenn's weiter nichts ist! Das Verdruckste der Leitkulturpolitik aus dem
Phrasenkatalog hat etwas Komisches, das beim ersten Lesen beruhigen mag. Diese
Besinnungsaufsatzprosa ohne Satzmelodie ist für agitatorische Zwecke
ungeeignet. Aber lässt man den unfreien Duktus auf sich wirken, muss er
trübsinnig stimmen. Wir haben ein Bekenntnis vor uns, mit dem die CDU
aufschließen möchte zur republikanischen Tradition Frankreichs und Amerikas.
Doch jedes einzelne Wort dient einzig und allein der Beschwichtigung. Der
Muslim muss sich unterordnen, raschelt es beim Schnelldurchgang durch die
Philosophiegeschichte im Antragspapier. Warum sagt man's ihm dann nicht direkt?
Die Ängste der Menschen ernst nehmen: Das ist seit dem
Schweizer Minarettvotum die Losung einer Integrationspolitik, die Desintegrationserscheinungen
an der Basis des politischen Systems verhindern will, ausgegeben etwa von
Wolfgang Bosbach, aber auch von Alois Glück, dem liberalen bayerischen
Katholiken. Aus den Augen hat man mit der Zeit verloren, dass man den Menschen
die Ängste nehmen sollte, wo sie unbegründet oder maßlos sind. Im Streit um
die dänischen Mohammed-Karikaturen hat man den Muslimen verdeutlicht, die
republikanische Weltöffentlichkeit könne auf ihre Empfindlichkeiten keine
Rücksicht nehmen, wenn sie den Zusammenhang von Religion und Terror verhandele
und sich dabei den Einsatz der ehrwürdigen Mittel der Blasphemie zum Zweck der
Geistesschärfung und Geisterscheidung vorbehalten müsse. Des Weiteren hat man
ihnen zu verstehen gegeben, sie redeten sich ihre Verletzungen doch nur ein, um
sich beschweren zu können. Mittlerweile gilt in den Islamdebatten das Prinzip
der Rücksichtnahme auf die Nichtmuslime, deren Sorgen zu beachtlichen Anteilen
eingebildet sind. Nach pragmatischen Maßregeln eines schier endlosen
Anhörungsprozesses, die sich in der Lokalpolitik bei der Moderation von
Moscheebauverfahren schlecht und recht bewährt haben, wird inzwischen die
nationale Öffentlichkeit behandelt, die in einen dauerhaften psychischen
Ausnahmezustand abzurutschen droht. Wenn eine Moschee in einem Wohnviertel
gebaut werden soll, ist es vernünftig, dass die örtlichen Politiker allen
Besorgnissen der Anwohner Gehör schenken, selbst wenn diese sich von Eiferern
haben munitionieren lassen und der in Rede stehende Moscheebauverein nach
Kenntnis der Behörden keinerlei Verbindungen zu Extremisten unterhält.
Nachbarn müssen es miteinander aushalten und sollten nicht das Gefühl haben,
enteignet zu werden, ob der mit Argwohn beäugte Inhaber der Baugenehmigung nun
eine Moscheegemeinde, ein Tanzlokalbetreiber oder eine Privathochschule für
Anlageberater ist. Aber heute beklagen Bürger, die sich als Kommunionhelfer,
Elternsprecher und Amazon-Rezensenten engagieren, in Eingaben an ihre
Bundestagsabgeordneten, dass Muslime ihnen zu nahe kommen, wenn sie irgendwo in
Deutschland nach den Regeln ihres Glaubens leben.
Wie sollen Christdemokraten, die sich vom Wortlaut des
Leitantrags des Karlsruher Parteitags leiten lassen, die 58,4 Prozent der
Deutschen ernst nehmen, die nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung der
Aussage zustimmen, dass für Muslime die Religionsausübung erheblich
eingeschränkt werden sollte? Indem sie ihnen sagen: «Schlagen Sie sich das aus
dem Kopf. Lesen Sie noch einmal im Grundgesetz nach, studieren Sie die
Klassiker der Aufklärung und bedenken Sie unsere historischen
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