Bahners, Patrick
Verheugen im selben Kontext
hatten Irmers Parteifreunde sechs Jahre vorher nicht rügen wollen. In einem
ungezeichneten Artikel im «Wetzlar Kurier» hatte gestanden, dass Verheugen als
Befürworter der türkischen Mitgliedschaft «im Grunde wegen Hochverrat an
Deutschland angeklagt» werden müsste. Vergeblich erinnerte ein SPD-Redner die
Landesregierung in der Landtagssitzung vom 25. November 2004 daran, dass der
Hochverrat im Strafgesetzbuch wie der Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe
bedroht ist. Vergeblich führte die FDP-Vorsitzende Ruth Wagner der CDU die
Verrohung der politischen Sitten vor Augen, die ein solcher Gebrauch der
Terminologie der Staatsschutzdelikte heraufführte.
Eine weitere in derselben Sitzung erörterte Entgleisung
war ein Appell, den Irmer im «Wetzlar Kurier» an Tarek Al-Wazir, den Vorsitzenden
der Landtagsfraktion der Grünen, gerichtet hatte. «Er fordert eine Gleichbehandlung
der Religionen. Herr Tarek Mohammed Al-Wazir wäre gut beraten, sich einmal im
Jemen zu erkundigen, wie es dort mit der Glaubensfreiheit aussieht.» Tarek
Al-Wazir wurde 1971 in Offenbach als Sohn einer deutschen Mutter und eines
jemenitischen Vaters geboren. Er wuchs in Offenbach auf, verbrachte aber als Jugendlicher
zwei Jahre bei seinem Vater in Sanaa, der Hauptstadt des Jemen. Gemäß dem alten
deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz war er durch Geburt jemenitischer
Staatsbürger. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1974 entschieden hatte,
dass die Anknüpfung an die Nationalität des Vaters gegen das Gleichheitsgebot
des Grundgesetzes verstieß, erhielt er auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Im
Landtag kam es im August 2000 zu einem Eklat, als Clemens Reif, CDU-Abgeordneter
für den Wahlkreis Lahn-Dill I und engster Verbündeter Irmers, während einer
Rede Al-Wazirs zur CDU-Spendenaffäre einen Zwischenruf machte, der von vielen
Abgeordneten als «Geh zurück nach Sanaa» verstanden wurde. Reif sagte, er habe
«Ein Student aus Sanaa» gerufen, in Anspielung auf den Schlager «Ein Student
aus Uppsala» aus der Hitparade des Jahres 1969. In der Irmer-Debatte von 2004
erklärte Al-Wazir, dass sein Zweitname weder in seinem Pass stehe noch im
Handbuch des Landtags. Er benutze ihn nicht. «Der Einzige, der ihn benutzt, ist
Herr Irmer.» Al-Wazir erinnerte an das nationalsozialistische Namenrecht, das
Juden die Zweitnamen «Israel» und «Sara» vorschrieb. Reif rief während der
Sitzung mehrfach: «Heißt er nun Mohammed oder nicht?»
Der «Wetzlar Kurier» nahm die Übung amerikanischer
Obama-Hasser vorweg, den Namen des Präsidenten stets als Barack Hussein Obama
anzugeben, um der Verleumdung den Boden zu bereiten, er sei ein geheimer
Muslim. Ironischerweise verdankt Al-Wazir den Prophetennamen in der
Geburtsurkunde dem Pflichteifer des Offenbacher Standesbeamten, der einen
Zweitnamen verlangte, da sich aus «Tarek» nicht das Geschlecht des Trägers
erschließen lasse. In der Landtagswahl 1999 errang Al-Wazir sein Mandat als
lebendes Beispiel für jene Spezies, gegen die Roland Koch in Übereinstimmung
mit den Prinzipien des «Wetzlar Kuriers» («Kein Mensch kann dauerhaft in zwei
Welten leben: Entweder man ist Deutscher oder Türke.») seinen Wahlkampf geführt
hatte: als Doppelstaatler. Ignatz Bubis, den Vorsitzenden des Zentralrats der
Juden in Deutschland, der die Unterschriftenaktion kritisierte, hatte der
«Wetzlar-Kurier» aufgefordert, er solle sich «einmal sachkundig machen, wie in
Israel! die Frage der Staatsbürgerschaft gelöst wird». In der Schlussphase des
Wahlkampfs 2008 ließ Koch Plakate kleben mit der Parole: «Ypsilanti, Al-Wazir
und die Kommunisten stoppen!» Während diese primitive Methode der Verwandlung
von Gegnern in Fremde nicht mehr verfing (unüberhörbar stammt die von einem
Griechen geschiedene Andrea Ypsilanti aus Rüsselsheim), liefert das Sachmoment
in Irmers Anwurf gegen Al-Wazir, die Suggestion, die Religionsfreiheit für
Muslime in Deutschland habe sich an der Religionsfreiheit in muslimischen
Ländern zu orientieren, bis heute eines der beliebtesten islamkritischen
Argumente. Noch weiter verbreitet ist der dem Anwurf vorausliegende Irrtum,
die Gleichbehandlung der Religionen müsse noch gefordert werden und sei nicht
schon durch das Grundgesetz geboten.
Das erfundene Zweiklassenrecht
Man trifft diesen Irrtum sogar dort an, wo die Kenntnis
des Staatskirchenrechts zu den Berufsvoraussetzungen gehört. Der Bischof von
Limburg, Franz-Peter Tebartz-van Eist,
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