Bahners, Patrick
Bemühungen der politisch Verantwortlichen, alle Vorhaltungen
der Kritiker subsumiert er unter Fiktion, um dagegen die Tatsachenwahrheit der
Fachebene zu setzen. Die Kirchen hatten sich aus der Expertengruppe zur Ausarbeitung
der Fragen nach der ersten Sitzung zurückgezogen. Nach der Veröffentlichung des
Leitfadens teilte die Katholische Kirche mit, dass man sich in den seinerzeit
geäußerten Bedenken bestärkt sehe. Grell hat sich «in diesem Zusammenhang
erlaubt, intern auf das achte Gebot hinzuweisen». Gleichzeitig bezieht sich der
Titel «Dichtung und Wahrheit» auf den übergreifenden Zusammenhang der
deutschen Islamdiskussion. Dort begegnete Grell die Problematik seines
Berufslebens als Schicksalsfrage der Nation wieder: Evidentes Wissen wird aktiv
ignoriert, die einfachsten logischen Schlüsse bleiben ohne praktische
Konsequenzen. Auf dem Dienstweg hat Rainer Grell nichts ausrichten können,
darum bringt er unters Volk, was in seinen Akten steht. Nur noch der Wahrheit
verbunden, zu Zurückhaltung und Mäßigung nicht mehr verpflichtet, legt er
seine Geschichte weitschweifig und kleinlich dar, einer der rechtschaffensten
zugleich und entsetzlichsten Büromenschen seiner Zeit.
Wie alles anfing Die
«Geburtsstunde» des Gesprächsleitfadens datiert Grell mit der Präzision, die
dem Beamten zweite Natur ist, auf den 2. Oktober 2003. Er las den Artikel von
Bertrams also am Tag nach dem Abdruck in der F.A.Z. Ein Satz erregte seine
Aufmerksamkeit: «Eine Lehrerin, die auf dem Tragen des islamischen Kopftuchs
beharrt, bekennt sich nicht ohne Vorbehalt und widerspruchsfrei zu unserer
Verfassung und ihren Werten.» Mit dem Karlsruher Urteil hatte ein langjähriger
Rechtsstreit zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Lehramtsbewerberin
Fereshta Ludin ein vorläufiges Ende gefunden, das Konsequenzen für den gesamten
öffentlichen Dienst haben konnte.
Natürlich nahm ein Leitender Ministerialrat im
Innenministerium zur Kenntnis, was einer der ranghöchsten Verwaltungsrichter
der Republik dazu zu sagen hatte. Es mag verwundern, dass Greils Interesse
durch einen einzelnen Satz geweckt wurde, den Satz, der die überaus klare
Argumentation des Artikels noch einmal zusammenfasste. Freilich ist
offensichtlich, was Grell in diesem Satz ins Auge fiel: das Wort «bekennt».
Stellen wir es uns so vor: Hinter seiner Stirn machte es klick, und sein
juristischer Verstand war aktiviert. Eine Analogie war ihm aufgegangen: die
Gleichartigkeit zweier Probleme, die gleichartige Lösungen nahelegte. Das
ungelöste Problem in seinem Zuständigkeitsbereich hatte er bis dahin
vielleicht noch überhaupt nicht bemerkt. Erst im Februar 2003 hatte Grell die
Leitung des Referats «Staatsangehörigkeitsrecht, Personenstandsrecht, andere
Rechtsgebiete» übernommen. Seine Versetzung war laut den «Stuttgarter
Nachrichten» «plötzlich» erfolgt, «aus organisatorischen Gründen». Darin lag
eine gewisse Ironie, war doch in den fünfzehn Jahren zuvor die Optimierung der
Organisation der Arbeitsabläufe im Ministerium seine Aufgabe gewesen.
Als Leiter der Stabsstelle für Verwaltungsreform hatte
Grell eine Position inne, die ihm im Staatsapparat des Landes der Techniker ein
besonderes Prestige verschaffte. Er war zuständig für das Querschnittsthema
Informations- und Kommunikationstechnologie, kurz IuK-Technologie, gelegentlich
auch Infrastruktur zweiter Ordnung genannt. Musterlösungen mussten im
Musterländle der Anspruch sein. Die Stabsstelle gab eine eigene Schriftenreihe
heraus mit Abhandlungen wie «Das Mitarbeitergespräch in der Landesverwaltung
Baden-Württemberg. Beratung, Zielvereinbarung, Förderung». Grell trat auch
selbst als Autor von Fachpublikationen in Erscheinung, veröffentlichte etwa
Aufsätze über «Schriftgutverwaltung und Vorgangsbearbeitung in der
Landesverwaltung Baden-Württemberg», «IT-gestützte Vorgangsbearbeitung in
Zeiten knapper Haushaltsmittel» oder «Einheitliche Bewertung von Funktionen
und Preisen bei Angeboten im Rahmen einer Gesamtbetrachtung». Die besondere
Tücke des Objekts Verwaltung liegt darin, dass es aus Menschen zusammengesetzt
ist, die zudem ganz überwiegend Lebenszeitstellen innehaben. So musste Grell
das eine oder andere Reformvorhaben mit einer melancholischen Notiz zu den
Akten legen: «Telearbeitsplätze in der Landesverwaltung Baden-Württemberg:
Bilanz eines gescheiterten Projekts». Ihm blieb das Schicksal des Reformers
nicht erspart, nach Durchführung einer Maßnahme nicht
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