Bahners, Patrick
Beamte darüber nicht. Er
verarbeitet das Erlebnis, indem er ihm eine anthropologische Deutung gibt. «So
wie die Wahrnehmung ein und desselben Gegenstandes durch ein Kind und einen
Erwachsenen (oder durch einen Muslim und einen Europäer) völlig unterschiedlich
sind oder sein können, so ist es wohl auch zwischen einem Fachbeamten und
einem Politiker. Die Wahrnehmung der Realität kann bei beiden erheblich
voneinander abweichen, ebenso wie der Inhalt ein und desselben verwendeten
Begriffs.» Der Autor des Muslim-Tests wird eingeholt von der Fatalität, deren
Bann der Test hatte brechen sollen, durch Aufdeckung der Tatsache, dass Muslime
und Deutsche einander nicht verstehen. Grell bleibt unverstanden im eigenen
Haus, weil im obersten Stock der Kalif thront. Wer ist in dieser Beziehung das
Kind, wer der Erwachsene? Sieht der Fachbeamte sich als den versierten
Ratgeber, dessen wohlüberlegte Pläne von der Naivität eines schwererziehbaren
Fürsten durchkreuzt worden sind? Zur grauen Eminenz, zum Minister hinter dem
Minister stilisiert Grell sich nicht, obwohl ihm die Feststellung wichtig ist,
dass die Initiative zum Leitfaden «von unten» und nicht «von oben» ausging. Der
Leitende Ministerialrat blickt kopfschüttelnd zum Minister auf: Ein kluges
Spiel hatte der Kleine sich ausgedacht - und vergessen, dass in der Welt der
Großen andere Regeln gelten. Dort kommt es mehr darauf an, wie eine Sache
wirkt, als darauf, wie gut sie durchdacht ist.
Das Fiasko des Tests bestätigte alle Lektionen von Greils
Berufserfahrung. Er lässt sich in einem Sarkasmus über die Politiker aus, der
auch auf Kosten des Beamten geht, der sich pflichtgemäß fünfunddreißig Jahre
lang mit den Verhältnissen arrangiert hat. Buckminster Füller, den Guru der
Tüftler und Weltretter, zitiert er gleich zweimal mit der Definition, Politik
sei aktive Ignoranz. Das apokryphe Zitat stammt aus demselben Internet-Schatzkästlein,
in dem man die Sentenzen von Ernst Jandl und Laotse findet, mit denen der
Autor seine «Persönliche Schlussbetrachtung» eröffnet: «Man darf beim Schreiben
keine Ehrfurcht haben.» und «Die Wahrheit hat noch keinem geschadet - außer
dem, der sie ausspricht.» Das Suhrkamp-Bändchen des amerikanischen Philosophen
Harry Frankfurt mit dem Titel «Bullshit» hat Grell angezogen; dort fand er
Variationen seines Buckminster-Fuller-Motivs: «Gerade in dieser fehlenden
Verbindung zur Wahrheit - in dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie
die Dinge wirklich sind - liegt meines Erachtens das Wesen des Bullshits.» Die
Politiker wissen nichts und «treffen die Entscheidungen, von denen unser aller
Schicksal abhängt». Auch Thilo Sarrazin hat aus seinem Beamtenleben die
Erfahrung mitgenommen, dass Unwissenheit Macht ist. Um politisch zu überleben,
töteten seine Chefs ihr Wahrheitsinteresse ab. «Es liegt ja durchaus ein Stück
politischer Weisheit darin, sich auf lösbare Probleme und mehrheitsfähige
Vorschläge zu konzentrieren. Aber das erschwert sowohl die klare Analyse als
auch die passende Therapie, und wenn man nicht aufpasst, wird einem das Gehirn
bis zum Verlust der Urteilskraft vernebelt.»
Grell beschreibt sich als subaltern und bestätigt diese
Selbsteinschätzung mit dem Niveau seiner Witze: «Im Büro habe ich frustrierte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dadurch motiviert, dass ich sie auf die
Vorteile der Tätigkeit in einem Ministerium aufmerksam gemacht habe: Schauen
Sie, fürs Kabarett müssen Sie Eintritt bezahlen, und hier kriegen Sie's umsonst
und werden noch dafür bezahlt.» Greils Memoiren sind die Vorlage für einen
Roman des Ressentiments. Fachwissen muss sich der Dummheit fügen, und noch
nicht einmal Anpassung wird honoriert: Dieser Staatsdiener hat den Staat als
die organisierte Unvernunft erlebt und meint doch, an seiner Pflicht nicht
irregeworden zu sein. Mit seinem Erinnerungswerk möchte er «den Leser ein
wenig hinter die Kulissen und zuweilen auch hinter die Stirnen blicken lassen,
zumindest hinter die Stirn desjenigen, der für den auf
Fachebene die Verantwortung trägt».
Hinter dieser Stirn soll man keine originellen Gedanken
vermuten. Grell denkt über die Muslime, was, wie er meint, jeder loyale Bürger
der Bundesrepublik denken muss, der den Koran und die gängige Literatur über
den Islam studiert. Der Historiker in eigener Mission hat seinem Buch den
Obertitel «Dichtung und Wahrheit» gegeben. Alle Fehlinformationen der Presse,
alle kosmetischen
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