Ball der Vampire
erreichte, und wir mussten verschwinden, ehe der zweite Lieferwagen anhalten konnte. Ich wühlte zwischen den Burger-Tüten und Fast-Food-Kartons auf dem Boden herum und fand schließlich in einer kleinen Lücke zwischen dem Boden und dem Regal einen vergessenen Schraubenzieher. Er war lang und dünn.
Ich sah ihn an und holte tief Luft. Ich wusste, was ich tun musste. Quinns Hände waren gefesselt, er konnte es nicht tun. Tränen rannen mir über die Wangen. Ich wurde schon zu einer richtigen Heulsuse, aber ich konnte einfach nichts dagegen machen. Einen Augenblick lang sah ich Quinn an, seine Miene war stählern. Er wusste genauso gut wie ich, dass es getan werden musste.
In diesem Moment verlangsamte der Lieferwagen die Fahrt und bog von der gut geteerten Landstraße auf einen kleinen Weg ab, der mit Kies bestreut zu sein schien und in einen Wald hineinführte. Eine Auffahrt, das hätte ich schwören können. Wir näherten uns dem Ziel. Das war die beste Gelegenheit, vielleicht sogar unsere letzte Gelegenheit.
»Zieh die Handgelenke auseinander«, murmelte ich und stach mit dem Schraubenzieher zu, in das Loch im Isolierband. Es wurde größer. Erneut stach ich zu. Die beiden Männer vorn, die meine wilden Bewegungen bemerkt hatte, drehten sich um, gerade als ich ein letztes Mal zustach. Während Quinn sich abmühte, das durchlöcherte Isolierband vollends durchzureißen, rappelte ich mich auf die Knie, griff mit der linken Hand in den groben Maschendraht und rief: »Clete!«
Er drehte sich um und beugte sich vor, näher an die gitterartige Abtrennung heran, um besser sehen zu können. Ich holte tief Luft und stieß dann mit der rechten Hand den Schraubenzieher durch das Metallgitter. Er landete direkt in seiner Wange. Clete schrie und blutete, George konnte kaum schnell genug bremsen und anhalten. Mit einem Brüllen befreite Quinn seine Handgelenke. Dann bewegte er sich blitzschnell, und als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam, waren wir beide auch schon durch die Ladetüren raus und in den Wald hineingerannt. Gott sei Dank begann der Wald direkt neben dem Weg.
Mit Kristallsteinen verzierte Riemchensandalen eignen sich überhaupt nicht zum Rennen, möchte ich hier mal loswerden, und Quinn war auf Socken unterwegs. Doch wir legten eine gute Geschwindigkeit vor, und ehe der entsetzte Fahrer des zweiten Lieferwagens anhalten, aussteigen und uns folgen konnte, waren wir schon außer Sichtweite. Wir rannten immer weiter, da sie Werwölfe waren und sicher unsere Spur aufnehmen würden. Den Schraubenzieher hatte ich wieder aus Cletes Wange herausgezogen. Ich hielt ihn noch in der Hand und dachte daran, wie gefährlich es doch war, mit einem so spitzen Gegenstand in der Hand so schnell zu rennen. Dann dachte ich an Cletes dicke Finger, die zwischen meinen Beinen herumtasteten, und fühlte mich schon nicht mehr so schlecht wegen dem, was ich getan hatte. Im nächsten Augenblick, als ich über einen in dornigem Gestrüpp liegenden Baumstamm springen musste, fiel mir der Schraubenzieher aus der Hand, und ich hatte keine Zeit, danach zu suchen.
Wir rannten weiter und weiter und kamen schließlich in die Sümpfe. Sümpfe und morastige Flüsse gibt's in Louisiana natürlich reichlich. Diese Sumpflandschaften sind reich an wildlebenden Tieren und sehr schön anzuschauen, vielleicht auf einer Kanutour. Aber einfach so hineinzugehen, und dann auch noch im strömenden Regen, das ist echt Mist.
Ein Gutes hatte der Sumpf ja: Er verwischte unsere Spuren. Wenn wir erst mal im Wasser waren, hinterließen wir keinen Geruch mehr, dessen Witterung die Werwölfe aufnehmen konnten. Davon abgesehen fand ich den Sumpf einfach schrecklich: Er war dreckig und voller Schlangen, Alligatoren und Gott weiß was noch allem.
Ich musste mich überwinden, um hinter Quinn herzuwaten. Das Wasser war dunkel und kühl, es war ja noch Frühling. Im Sommer würde es sich anfühlen wie eine warme Brühe. An einem so bewölkten Tag würden wir, wenn wir erst mal die bis ins Wasser hängenden Bäume erreicht hatten, für unsere Verfolger beinahe unsichtbar sein. Sehr gut. Das hieß aber auch, das wir jedes lauernde Wildtier frühestens dann sahen, wenn wir drauftraten oder gebissen wurden. Nicht so gut.
Quinn lächelte breit, und ich erinnerte mich, dass für manche Tigerarten Sümpfe zu ihrem natürlichen Lebensraum gehörten. Na, wenigstens einer von uns war glücklich.
Das Wasser wurde tiefer und tiefer, und schon bald mussten wir schwimmen.
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