Ball der Versuchung
mit ihm ging oder nicht.
»Nächstes Mal, okay?«
Sie warfen beide einen Blick auf die Countdown-Uhr. »Ja«, sagte Myrnin. »Nächstes Mal. Ah! Was ich dich noch fragen wollte. Was hast du über Bishop und das Willkommensfest gehört?«
»Nicht viel. Ich glaube, Michael und Eve gehen hin. Shane... Shane sagt, dass er hingehen muss.«
»Mit Ysandre?«
Claire nickte. Myrnin wandte sich von ihr ab, schubste in seiner ruhelosen Begeisterung einen Bücherstapel um und dann noch einen. Er stieß einen rauen Freudenschrei aus, kletterte über die Bücherhaufen, um ein Buch zu holen, das Claires Ansicht nach genauso aussah, wie alle anderen.
Er warf es ihr zu. Claire konnte es gerade noch fangen, bevor es gegen ihre Brust prallte. »Au!«,beschwerte sie sich. »Nicht so fest, bitte.«
»Tut mir leid.« Es tat ihm nicht wirklich leid. Er hatte heute was Dunkles, Subversives an sich.
»Was ist das überhaupt?«
Myrnin kam zurück zu ihr, nahm das Buch, öffnete es und blätterte darin. Etwa in der Mitte hielt er inne und gab es ihr zurück.
»Ysandre«, sagte er.
Das Buch war auf Englisch verfasst, aber es stammte aus dem achtzehnten Jahrhundert, deshalb konnte man es schlecht entziffern, zumal es Flecken auf den Seiten hatte.
Sie ward von solch außergewöhnlicher und wunderbarer Schönheit, dass ihr Großvater von ihrem blendenden Antlitz derart verzaubert war, dass er sie für einen Engel hielt, den Gott zu ihm gesandt hatte, um ihm auf dem Sterbebett Trost zu spenden. Die reinen Linien ihres feinen Profils, ihre großen schwarzen und feuchten Augen, ihre edle, unbedeckte Stirn, ihr Haar, das wie der Flügel eines Raben schimmerte, ihr köstlicher Mund - die gesamte Wirkung dieses schönen Antlitzes auf diejenigen, die sie sahen, war von solch tiefer Melancholie und Süße, dass es sich ihnen für immer einprägte. Sie war groß und schlank, aber nicht so dürr wie einige junge Mädchen. Ihre Bewegungen hatten diese unbekümmerte, geschmeidige Grazilität, die an das Wiegen eines Blumenstängels in einer Brise erinnerte.
»Oh«, sagte Claire überrascht. Er hatte recht, das war Ysandre. »Sie war...«
»… eine sehr berühmte Mörderin. Kurz nach dem Tod ihres Großvaters half sie ihrem Mann und ihren Cousins, einen König zu ermorden. Am Ende wurde sie gehenkt, aber das war, nachdem sie in einen Vampir verwandelt worden war. Gutes Timing für sie.«
Das Buch enthielt einen grauenvollen Bericht des Königsmordes und einer ganzen Reihe anderer Morde. Claire schüttelte sich und machte das Buch wieder zu. »Warum haben Sie mir das gezeigt?«
»Ich möchte nicht, dass euch das Gleiche passiert wie ihrem Großvater - dass ihr sie unterschätzt, weil sie aussieht wie ein Engel. Ysandre hat mehr Leben zerstört, als du dir auch nur annähernd vorstellen kannst, allen voran ihr eigenes.« Myrnins Augen waren finster und sehr, sehr ernst. »Wenn sie Shane will, dann überlass ihn ihr. Sie wird bald genug von ihm haben. Amelie wird nicht zulassen, dass sie ihn umbringt.«
»Ich glaube, sie möchte etwas anderes«, sagte Claire.
»Ah. Also Sex. Oder eine Version davon. Ysandre war schon immer ein wenig... bizarr.«
»Wie kann ich sie aufhalten?«
Myrnin schüttelte langsam den Kopf. »Tut mir leid. Da kann ich dir nicht helfen. Mein einziger Vorschlag - und ich bin mir fast sicher, dass er dir gar nicht gefallen wird - ist, du lässt es ihn auf seine eigene Art regeln. Sie wird ihn am Leben lassen und mehr oder weniger an einem Stück, es sei denn, er widersetzt sich ihr.«
»Sie haben recht, mir gefällt der Vorschlag nicht.«
»Beschwer dich beim Management, meine Liebe.« Sein Anfall von Ernsthaftigkeit verflog so rasch, wie eine Wolke an der Sonne vorbeizieht. »Wie wäre es mit einer Partie Schach?«
»Wie wäre es, wenn wir einfach Ihr Blut analysieren, wir haben nämlich nur noch wenige Minuten, bevor ich Sie zurück in Ihre, ähm, in Ihr Zimmer bringen muss.«
»Zelle«, korrigierte er. »Vollkommen in Ordnung, würde ich sagen. Für jemand so Junges arbeitest du zu hart.«
Irgendjemand musste schließlich hart arbeiten, dachte Claire frustriert. Und Myrnin tat das sicherlich nicht.
***
Ab Donnerstag war der bevorstehende Maskenball das Gesprächsthema in Morganville. Claire konnte es gar nicht vermeiden, davon zu hören. In der Cafeteria der Universität war das unausweichlich; die Leute trompeteten die verrücktesten, privatesten Dinge in die Öffentlichkeit hinaus, als würde ihre
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