Ballade der Leidenschaft
den Gerüsten rings um das Gotteshaus tummelten und ihr Tagewerk begannen. So wie Ben besaßen sie einen atemberaubenden Gleichgewichtssinn.
„Verzeiht, Madame.“ Eine Frau neben ihr räusperte sich. „Wie viel soll das blaue Leinen kosten, genug für ein Kleid?“
Rozenn riss ihren Blick vom Kirchentor los – noch immer kein Ben – und rang sich ein Lächeln ab. „Oh, Euer Geschmack ist ausgezeichnet, Madame. Zweifellos das schönste Leinen der Stadt.“
Während sie mit der Kundin um den Preis feilschte, schlenderte Ben mit Abt Benoît aus der Abteikirche. Ben? In der Gesellschaft des Abtes?
„Könnt Ihr mir nicht doch einen Preisnachlass zubilligen?“, unterbrach die Frau Rozenns Gedanken. „Wenn ich meinen Mann bitte, morgen früh ein paar Lammkoteletts vor Eure Tür zu legen? Gewiss keinen Hammel, sondern ganz frisches Lamm …“
„Einverstanden.“ Rozenn nahm die Schere von ihrem Gürtel, die Schneideblätter glitten ratschend durch den Stoff. Sorgsam faltete sie das abgeschnittene Leinen zusammen, steckte das Geld in ihren Beutel und hob den Kopf. „Wer kommt jetzt dran?“
Mittlerweile wurde sie vom Ansturm an Kundschaft fast überwältigt. Offenbar hatte sich sehr schnell herumgesprochen, dass man an Madame Rozenns Marktstand günstige Geschäfte machen konnte.
Comtesse Muriel kaufte den ganzen Ballen grün und goldfarben gestreiften Seidenstoffs, ihre eigene Pflegemutter Ivona erwarb schönes weißes Leinen für einen Sommerschleier.
Auch Lady Alis entschied sich für mehrere Bänder „für einen Kopfputz“ und überraschte Rozenn mit einem scheuen Lächeln, als sie ihr einige Silbermünzen in die Hand drückte. Danach kaufte Lady Josefa englische Borten für die Verschnürung von Männerhosen.
Rozenns Herz schlug höher. Wenn sie Glück hatte, konnte sie Pers restlichen Bestand an diesem Tag veräußern und all seine Schulden begleichen.
Während die Sonne am wolkenlosen Himmel emporstieg, wurden die Schatten immer kürzer. Der Andrang an Kunden hatte sich beträchtlich verringert, aber Rozenn war immer noch beschäftigt. Schließlich begannen die Angelusglocken zu läuten und jagten die Tauben in die Luft.
Schon Mittag? Rozenn straffte die Schultern, hakte die Schere an ihrem Gürtel fest und musterte ihren Tisch. Allzu viele Stoffe waren nicht übrig geblieben. Das fand sie sehr erfreulich, denn die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man vormittags die meisten Verkäufe machen konnte.
Sie sortierte, was noch da war, faltete die Stoffreste und rückte die bereits deutlich kleineren Ballen zurecht. Sollte sie die Preise weiter senken? Nein, noch nicht. Ein Teil der Waren war wertvoll, den durfte sie nicht zu billig abgeben. Also würde sie den Nachmittag abwarten.
Nachdem Gräfin Muriel und ihre Damen alle Marktstände inspiziert und einige fast geplündert hatten, kehrten sie in die Festung zurück.
„Rozenn?“
Verwirrt fuhr sie zusammen und wandte sich zu Mark, der neben sie trat und sie aus seinen grauen Augen ernsthaft betrachtete.
„Guten Tag, Mark, ich habe Euch gar nicht gesehen.“
„Hoffentlich geht es Euch gut?“, fragte er auf seine bedächtige, förmliche Art. Er war etwa zehn Jahre älter als Rozenn und wurde bereits ein wenig füllig. Seine Frau hatte, bevor sie bei der Geburt ihres fünften Kindes gestorben war, ihre Tafel stets großzügig gedeckt.
„Danke, sehr gut. Und Euch?“
Während Rozenn mit Mark den bisherigen Erfolg des Markttags erörterte, sah sie Ben zwischen den Ständen hindurchwandern. Langsam, aber stetig kam er auf sie zu, und ihr Herz pochte prompt schneller.
„Habt Ihr die gewünschten Preise erzielt?“, erkundigte sich Mark, geschäftig wie immer.
„Ja, in der Tat.“
Zögernd trat er näher. Geistesabwesend strich er mit der Hand über einen samtenen Stoffrest, der nicht einmal für einen kurzen Umhang reichen würde. Auf seiner Oberlippe perlten Schweißtropfen. Er räusperte sich, und Rozenn bemerkte, dass sein Gesicht gerötet war. „Genug, um – äh – die Probleme zu lösen, die Per Euch vielleicht hinterlassen hat?“
Eindringlich musterte Rozenn ihn. Zweifellos glaubte er, sie würde ihm die übrige Ware, falls sie Pers Schulden nicht bezahlen konnte, zu einem Spottpreis verkaufen.
„Bitte bedenkt mein Angebot“, fügte Mark hinzu und klopfte auf seinen prall gefüllten Geldgürtel. „Wenn ihr zu knapp bei Kasse seid, die Schulden zu begleichen – für eine junge Dame, die sich bereit erklärt, meine
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