Ballast oder Eva lernt fliegen
zu suchen. An jedem anderen Tag hätte sie Ariane scharf zurechtgewiesen. Wenn Eva die bestgestylte Frau des Unternehmens war, so traf auf die Bäuerle mit Sicherheit das Gegenteil zu. Sich ausgerechnet von dieser Vogelscheuche Komplimente oder gar Kritik an ihrem Äußeren anzuhören, war grotesk. Doch Evas verletzter Stolz lechzte nach Streicheleinheiten und Arianes Worte verliehen all den Blicken der anderen eine gänzlich neue Bedeutung. Natürlich: Niemand war entsetzt gewesen, so ein Unsinn, wie hatte sie nur auf einen so abwegigen Gedanken kommen können? Schließlich sah sie in diesem Kleid ab-so-lut umwerfend, ja: fantastisch! aus. Die Kollegen waren lediglich überrascht gewesen. Positiv überrascht.
Ariane, die sich halbherzig bemühte, die Post in ihren Drahtkorb zurück zu sortieren, war inzwischen bei ihrem Lieblingsthema angelangt: der Unterdrückung der Frau. Klar sei dieser bescheuerte Dresscode total frauenfeindlich! So einen Kack könnten sich doch echt nur Männer ausdenken. Aber damit sei jetzt Schluss! Sie, Eva, werde sehen: Bald machten es die anderen ihr nach und kämen auch so, wie sie wollten. Und: Verdammt!, am liebsten würde sie, Ariane, sich sofort abschminken und den grässlichen Fummel, den sie trug, in die Tonne drücken!
Mitleidig die junge Frau musternd, dachte Eva im Stillen, dass es wirklich gnädiger wäre, Ariane in Jeans und ohne Make-up, von dem die Ärmste ohnehin nicht die geringste Ahnung hatte, arbeiten zu lassen. Zugleich regte sich in ihr die Erinnerung an ihre eigene nächtliche Rebellion. Eva war schließlich nicht von ungefähr so ungeschminkt zur Arbeit erschienen! Hatte sie sich nicht geschworen, dass Schluss sein sollte mit der Beauty-Sklaverei, ein für alle Mal? Dass sie sich nie wieder von den frauenfeindlichen Schönheitsidealen einer männerdominierten Gesellschaft unterjochen lassen wollte? Und was, bitte, war der Dresscode denn anderes, als ein von Männern diktiertes Schönheitsideal!
Natürlich sei es denen gar nicht wirklich um Schönheit zu tun, nahm Ariane Evas Faden auf, als hätte sie deren Gedanken gelesen. Schließlich müsse doch selbst der doofste Mann wissen wollen, wie die Frau an seiner Seite in natura aussehe! In Wirklichkeit ginge es wieder mal nur darum, sie, die Frauen, zu gängeln und unten zu halten! Solange sie, die Frauen, verzweifelt versuchten, wie die Tussis auf den Titelseiten der Hochglanzmagazine auszusehen, würden sie den Männern schon nicht gefährlich werden. Und jetzt mal ernsthaft: Eine Frau wie Eva sehe auch in Sackleinen noch gut aus, da könne sie, Ariane, sich noch so toll rausputzen und doch nicht mithalten.
Eva, die der rasante Sprung von Arbeitskleidung über Ehefrauen zu Illustrierten etwas schwindelig machte, versicherte der Bürobotin atemlos vor Mitgefühl, dass gutes Aussehen auch kein Garant für Glück sei, und dass die Männer sich schönen Frauen gegenüber um keinen Deut besser verhielten als... bei nicht so gut aussehenden, sagte sie. Gedacht hatte sie: bei Vogelscheuchen.
Woraufhin Ariane vermutete, dass die Dumpfbacken, also die Männer, zu viel davon bei Frauen wohl genauso wenig vertrügen, wie zu viel Intelligenz, wobei sie bei letzterem offensichtlich an ihre eigenen leidvollen Erfahrungen dachte.
Inzwischen errötete Eva bei dem Gedanken, dass sie eben noch in den Waschraum hatte eilen wollen, um sich zu schminken. Daran war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Sie würde den Männern so einfach nicht klein beigeben. Sie hatte eben nur ein wenig moralische Unterstützung benötigt, das war alles. Als Ariane rotwangig versicherte, dass sie am nächsten Tag in Jeans zur Arbeit erscheinen wolle, bestärkte Eva sie in diesem Vorhaben. Dann bot sie ihrer neuen Freundin das Du an und schlug vor, gemeinsam in die Kantine zu gehen. Beinahe war ihr Arianes überschwängliche Dankbarkeit peinlich, aber eben nur beinahe, und im Bewusstsein, dass ihre eigene Schönheit neben dieser traurigen Gestalt nur umso strahlender hervortreten musste, machte sie sich mit ihrer Eroberung auf den Weg zum Mittagessen.
In der Kantine lief das ungleiche Paar prompt dem Personalchef über den Weg. Der runzelte bei Evas Anblick die Stirn. Gleich darauf verdüsterte sich sein Blick, als er auf die korrekt kostümierte Ariane schwenkte. Der Direktvergleich musste zugunsten Evas ausgefallen sein, denn der für seine Sturheit berüchtigte Mann gratulierte Eva zu ihrem Geburtstag, ohne ein Wort über ihr Kleid zu verlieren.
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