Ballast oder Eva lernt fliegen
verbannte Eva grundsätzlich alle unangenehmen Dinge schnellstmöglich aus ihren Gedanken, bis sie sich entweder energisch zurückmeldeten, oder aber in gnädigem Vergessen versanken. An jenem Tag, während sie kräftig ausschritt und die kalte Luft genoss, gab es wenig zu verdrängen und viel, um in Erinnerung zu schwelgen. Da war zunächst die Kollision mit Liebig, an den sie gerne und mit Herzklopfen dachte. Dass er sie mittags nicht beachtet hatte, war längst vergessen und vergeben. Das Rätsel um sein Verhalten hatte sich in der Kantine gelöst, als er sie überrascht angesehen und gefragt hatte, ob sie denn eine neue Kollegin sei. Liebig hatte sie tatsächlich nicht als die Empfangsdame erkannt, an der er Dutzende Male vorüber gegangen war, und als Eva ihn aufklärte, erstarrte er erst fassungslos, um sich dann mit hochrotem Kopf bei ihr zu entschuldigen.
Ein weiterer, erinnernswerter Glanzpunkt war die von ihr so mehrdeutig umgeworfene Ariane. Dann das unübersehbare Wohlgefallen, mit dem der Personalchef sie gemustert hatte. Und natürlich, nicht zu vergessen, ihre eigene Genialität, als sie einen neuen Look namens Natural Wellcome kreiert hatte. Ein perfekter Tag!
Sie bog in ihre Straße ein. Im Fenster einer Blumenhandlung zog eine majestätisch schöne Calla Evas Blick auf sich. Sie stand allein, ohne schmückendes Beiwerk, in einer schlichten Vase. Die unverfälschte Schönheit der weißen Blüte machte Eva großen Eindruck und sie beschloss, dass diese das Symbol ihres neuen Lebens werden sollte. Sie merkte nicht, als sie den Laden betrat, dass ihrer behandschuhten Hand das Geschenk des Gärtners entglitt. Unbeachtet und unvermisst blieb das Zaubernussreis auf der Schwelle zurück.
Die Calla bekam einen Ehrenplatz auf dem Wohnzimmerbuffet. Zur Steigerung ihrer Wirkung ordnete Eva um die schlanke Glasvase einige ihrer schönsten und vor allem natürlichsten Deko-Objekte: Einen bizarr geformten Korallenbrocken, die in Erdtönen bemalte Kalebasse, die eine Kollegin aus Afrika mitgebracht hatte und einen großen, glitzernden Amethyst. Erst als sie mit dem Arrangement ganz zufrieden war, ging Eva in die Küche, um sich ein Feinkost-Menu aufzutauen. Während der Teller in der Mikrowelle seine Runden drehte, köpfte sie eine Piccolo-Flasche und stieß mit ihr auf sich selbst an.
Eva war glücklich. Der Tag hatte ihr einen Erfolg nach dem anderen beschert, was Evas Vorstellung von Glück schon sehr nahe kam. Auch war sie inzwischen selbst überzeugt, sie sei schon lange der Ansicht gewesen, ein zeitgemäßer Citylook, wie der Personalchef es ausgedrückt hatte, sei längst überfällig. Während sie mit gesundem Appetit ihr Putensteak aß, ging sie in Gedanken ihren Kleiderschrank durch und plante den kommenden Tag. Würde sie Liebig wieder begegnen? Mit Sicherheit, aber würden sie auch wieder ins Gespräch kommen? Wie würde er gekleidet sein und welche Farben würden ihm an ihr gefallen? Dergleichen Fragen beschäftigten sie bis zu ihrem Functional-Food-Dessert.
Nach dem Abendessen machte sie es sich mit ihrer Ex-Einkaufsliste auf der Relax-Liege gemütlich. Sie konnte nun selbst kaum glauben, dass all dies in ihrem kleinen Badezimmer Platz gefunden hatte und dass sie überzeugt gewesen war, all das Zeug zu brauchen. So satt, zufrieden und ungeschminkt auf ihrer Liege ausgestreckt, schien es ihr eine unbegreifliche Vergeudung von Zeit, Geld und Energie. Eher beiläufig begann sie, bei einzelnen Posten die Einkaufspreise und die Zeit zu notieren, die sie für ihre Anwendung aufgebracht hatte. Immer ungläubiger gestaltete sich ihr Kopfschütteln, und schon bald war sie von ihrer Kalkulation ganz vereinnahmt. Am Ende der Liste angelangt schlug Evas Fassungslosigkeit in tiefe Befriedigung um, als sie sich bewusst machte, dass sie sich von all diesem Ballast ja eben erst befreit hatte. Dann fiel ihr etwas ein, sie eilte zu ihren drei wichtigsten und daher stets gefüllten Handtaschen und zog die darin noch verborgenen Schmink-Utensilien heraus, um auch diese in den Mülleimer und auf die Liste zu befördern. Schließlich addierte sie noch die Zeiten für den Einkauf hinzu, Spritkosten und Parkplatzgebühren (falls sie die Parfümerie in der Innenstadt besucht hätte), und als sie ihre Rechenaufgabe abgeschlossen hatte, lehnte sie sich mit beinahe religiöser Ergriffenheit zurück.
Zwei Stunden und sechsundfünfzig Minuten täglich und dreihundertsiebenundzwanzigkommasiebzehn Euro monatlich hatte sie der
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