Ballast oder Eva lernt fliegen
Dach der Welt!
Eva saß in Christians Kinderzimmer, vor Christians Computer und heulte Rotz und Wasser. Sie begann, sich selbst die bittersten Vorwürfe zu machen. Die Nachricht datierte vom Anfang der Woche, sie hätte sie längst lesen können. Stattdessen hatte sie Tage im Rausch verbracht, euphorisch ihre Selbstbefreiung zelebriert, während Christian auf eine Reaktion wartete und glauben musste, dass er seiner Mutter völlig gleichgültig geworden sei. Wie konnte sie das wiedergutmachen? Sie widerstand dem Drang, sofort einen Flug zu buchen, ging stattdessen ihr verheultes Gesicht waschen und setzte danach Wasser für einen Seelentröster auf. Als es endlich kochte, hatte Eva sich soweit beruhigt um einzusehen, dass sie ihrem Sohn besser in nüchternem Zustand antwortete. Sie brühte sich einen Yogitee auf und kehrte an den Bildschirm zurück. Dort saß sie wie erstarrt, unfähig die passenden Worte zu finden. Bald begannen ihre Gedanken sich in Erinnerungen zu verlieren. Sie dachte an den kleinen Jungen, der so gerne an dem Bach gespielt hatte, der sich unweit ihres Hauses über einen Spielplatz schlängelte. An sein freches Lachen. An seine Steinsammlung: Lauter einfache Kiesel, aber er wusste genau, welchen er wo gefunden hatte. Plötzlich stand Eva auf, eilte zu ihrer Handtasche und zog den Glücksstein heraus. Sie legte ihn neben die Tastatur und begann zu schreiben.
Es wurde eine lange Mail und eine sentimentale. Christian musste schon daran erkennen, wie erschüttert seine Mutter war. Sie erzählte ihm weit mehr von ihrem eigenen Leben, als sie es jemals getan hatte. Er sollte verstehen, warum sie so wenig Anteil an dem seinen genommen hatte. Und er sollte wissen, wie sehr sie dies bedauerte.
Während ihr Brief durch Kabel und Äther seinen Weg auf einen Bildschirm in Australien suchte, erschien ihr Postfach und erinnerte sie an die zweite Mail, die ihren Löscheifer überdauert hatte. „Mein allererster Liebesbrief“ stand im Betreff.
Ein anderer, veränderter Bernd schien ihn geschrieben zu haben. Und eine andere, veränderte Eva las ihn. Noch immer aufgewühlt, noch immer in dieser weichen, entpanzerten Stimmung, las Eva die hilflosen Beteuerungen seiner Liebe. Nie zuvor hatte er ihr erklärt, wie sehr er ihre Kompromisslosigkeit bewunderte, wie sehr es ihn faszinierte, wie sie ihr Leben so völlig neu ausrichtete, es selbst in die Hand nahm und die Richtung bestimmte, der es folgen sollte. Er gestand ihr, wie richtungslos sein eigenes Leben immer gewesen sei, wie sehr ihr Einfluss ihn verändert habe. Nach diesen ungewohnten kamen vertrautere Töne, als Bernd zu schildern begann, wie schwer es ihm fiel, sich auf die langweiligen Sitzungen zu konzentrieren, während sein Körper mit jedem Tag lauter nach Eva schrie. Sie sei seine Liebesgöttin und raube ihm den Schlaf und so weiter. Normalerweise machte es Eva Spaß, solche Emails zu lesen, die unweigerlich eintrafen, wenn sie sich länger als eine Woche nicht gesehen hatten. Üblicherweise vergalt sie Gleiches mit Gleichem, heizte seine Phantasien fleißig an mit drastischen Schilderungen in ordinärem Vokabular. Nach solchen Cybersex-Orgien befriedigte sie sich selbst, wenn sie es nicht schon während des Schreibens getan hatte. Doch diesmal hinterließen Bernds heiße Töne keinen Eindruck, zu stark hatten seine unsicheren, ängstlichen Liebesbeteuerungen auf sie gewirkt. Und wieder packte sie Reue, weil sie eine Woche lang den Kontakt mit der Außenwelt verweigert hatte.
Sie war zu müde, ihre in den letzten zwei Stunden so strapazierten Gefühle waren zu erschöpft, um Bernd eine lange Antwort zu schreiben. Also schrieb sie nur, dass dies der schönste Brief sei, den sie je bekommen habe, und schickte diese eine Zeile ab, ohne Liebesschwüre oder auch nur ihren Namen hinzuzufügen. Dann machte sie den Rechner aus, ging ins Schlafzimmer, legte sich angezogen auf ihre Matratze und schlief ein.
Bernd Liebig fügte sich erstaunlich schnell in die neuerliche Wendung, die ihm nicht nur körperliche Beweglichkeit abverlangte. Als er am frühen Samstagvormittag die Wohnung stürmte, tauschte Eva seine roten Rosen gegen eine Dose Lack und einen Pinsel ein. Den restlichen Vormittag sollte er damit verbringen, die Fensterrahmen mit synthetischem Ochsenblut zu bepinseln und die Tatsache zu verdauen, dass die Möbel nach Evas Farbstreich nicht in die Zimmer zurückkehren würden.
Eva fühlte sich bestätigt. Ihr heimlicher Alleingang erwies sich als
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