Ballaststoff
Kriminalkommissare keineswegs die tollen Kerle sind, wie sie in Büchern und Filmen immer dargestellt werden. Wenn du so eine Idealvorstellung von meinem Berufsstand hast, kann man dich ja nur enttäuschen.«
»Das glaube ich nicht«, lächelte die Rechtsmedizinerin hintersinnig. »Ich rede ja nicht von irgendeinem Kommissar. Ich meine ganz speziell dich.«
Georg steckte sich schnell ein paar von den Knabbersachen in den Mund. Wo war er da bloß reingeraten? Aber, wenn er ehrlich war … Er hatte es gewusst. Deshalb hatte er wahrscheinlich auch dieses Treffen so lange hinausgezögert oder gedacht, er würde vielleicht darum herumkommen, wenn er sich nicht meldete. Doch als sie dann heute Morgen vor ihm stand, war ihm sein innerer Widerstand plötzlich abhanden gekommen. Die Stimme der Vernunft war plötzlich verstummt, und in dieser Laune hatte er am späten Nachmittag in ungewohnter Spontaneität zum Telefon gegriffen.
»Ich glaube, du irrst dich. Ich bin auch nicht interessanter als andere.«
»Das werden wir noch sehen, lieber Georg. So einiges weiß ich ja schon von dir. Dein Freund Steffen hält jedenfalls ganz große Stücke auf dich!«
»Ach, ihr redet also über andere Leute, während ihr eurem, na ja, unappetitlichen Geschäft nachgeht!«
»Du liebst Italien, du magst Paolo Conte und du kommst aus Oberfranken …«, zählte Anita auf. »Und vor allem bist du ein fantastischer Koch.«
»Also nein, dieser Steffen! Das erzählt er dir einfach so?«
»Na ja, ehrlich gesagt, hab ich ihn ausgefragt. Ich weiß zum Beispiel auch, dass du verheiratet bist und zwei reizende Töchter hast«, fuhr Anita fort und sah ihn unverwandt an.
Das wusste sie also bereits. Vorhin hatte er noch darüber nachgedacht, wie er mit dieser Tatsache umgehen sollte. Aber so war es natürlich einfacher.
»Dann liegt mein Leben ja wie ein offenes Buch vor dir«, sagte er mit ironischem Unterton. »Aber jetzt bist du dran. Außer dass du diesen schrägen Beruf ausübst und für die Félicité Parmentier schwärmst, weiß ich gar nichts von dir.«
»Ich liebe Hotelbars, wie du siehst. Es sind sichere Oasen, wo du immer willkommen bist, aber mit ihrer ganz speziellen Atmosphäre, die so etwas Unverbindliches, Anonymes hat. Ich mag dieses Gefühl, unter Menschen zu sein, die irgendwie flüchtig sind, morgen wieder an einem anderen Ort, hier nur auf der Durchreise. Wahrscheinlich, weil ich selbst so schlecht Wurzeln schlage.«
»Da bin ich anders. Ein ganz langweiliger Typ, der jetzt seit 15 Jahren in Lübeck wohnt. Und in der Bar hier bin ich trotzdem noch nie gewesen.«
»Ach, weißt du, irgendwie beneide ich auch die Leute, die so richtig sesshaft werden können«, seufzte Anita. »Mein Leben war bisher immer so eine Art Wanderzirkus.«
»Erzähl doch mal ein bisschen davon«, ermunterte sie Georg. »So ein gewisser Informationsgleichstand wäre doch nicht schlecht, finde ich.«
Während Anita erzählte, knabberte Georg unentwegt von den Käsebällchen und den Wasabi-Erdnüssen, was ihm natürlich den Geschmack seines Rotweines verdarb.
Sie war ein Einzelkind, was Anita noch heute ihren Eltern vorwarf. Geboren in Stuttgart, war sie schon als Zehnjährige nach Hannover gekommen und sprach seitdem lupenreines Hochdeutsch. Während eines einjährigen Schulaufenthaltes in den USA hatte sie in der Familie eines forensic pathologist gelebt und dort ihre Begeisterung für die Rechtsmedizin entdeckt. Studiert hatte sie in Hamburg und Berlin, unterbrochen von Studienaufenthalten sowohl in anderen Ländern Europas als auch in Übersee. Sie hatte die große, weite Welt gesehen, und Georg kam sich richtig provinziell neben ihr vor.
Der diskrete Kellner hatte die Schälchen bereits zum zweiten Mal aufgefüllt. Georg konnte einfach nicht davon ablassen, denn er hatte ziemlich großen Hunger. Offensichtlich hatte Anita unter der Verabredung auf einen Wein wirklich nur das verstanden und ihn an diesen Ort geführt. Zwar hatte sie statt des Weines nun einen Cocktail bestellt, doch schien sie weder Hunger noch die Absicht zu haben, etwas essen zu wollen.
»Wollen wir noch was trinken?«, fragte Anita. »Ich werde immer so melancholisch, wenn ich anfange, über mein Leben nachzudenken.«
Warum nicht, dachte Georg, noch ein Wein würde auch gegen den Hunger helfen. Dann würde er sein Fahrrad eben stehen lassen. Und sie bestellten beide noch einmal dasselbe.
»Nach dem Studium bin ich nach Tübingen gegangen. Irgendwie dachte ich, als
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