Ballnacht in Colston Hall
brauchte ihn so sehr, brauchte seine Stärke und seinen Schutz. Aber er war ja unterwegs im Dienst ihrer Familie und konnte ihr nicht helfen.
Im Gegensatz zu vorher schwiegen die beiden Männer jetzt beharrlich. Sie musterte Freddie, der unbeweglich neben ihr lag, eindringlich und merkte plötzlich, dass er die Augen wieder geöffnet hatte und ihr zublinzelte. Erleichtert sah sie sich um. Sie fuhren gerade an Miss Greys Häuschen vorüber, aber von dort war keine Hilfe zu erwarten. Bestimmt lag die alte Lehrerin längst in ihrem Bett, hatte die Tür fest verschlossen und bemühte sich, nichts zu sehen und nichts zu hören. Vielleicht fiel hin und wieder einmal eine Flasche Wein für sie ab als Dank für ihre Verschwiegenheit.
Das Ziel ihrer Fahrt konnte aber nicht mehr weit entfernt sein, wenn man die Zeit in Rechnung setzte, die die Männer für ihre Rückkehr gebraucht hatten. Aber wohin ging die Reise? Sie fuhren in nordwestlicher Richtung ins Land hinein. Vielleicht Southminster? Die Straße nach Southminster war auf der Karte ja eingezeichnet gewesen. Während Lydia noch überlegte, wandte sich einer der Männer um und betrachtete sie misstrauisch.
“Glaubt Ihr, ich versuche zu entfliehen?”, fragte sie ein wenig spöttisch.
“Mach dir darauf keine Hoffnung.”
“Warum sollte ich auch? Mich interessiert überhaupt nicht, was Ihr macht. Ich will nur meinen Bruder. Ich will ihn wohl und gesund wieder daheim haben – um jeden Preis.”
Der Mann schien ihre Worte ungeheuer vergnüglich zu finden, denn er stieß seinen Nachbarn an und prustete los. “Hast du gehört, Joe? Um jeden Preis. Der Sir wird sich freuen, das zu hören.”
“Ihr habt die Karte und die Steine. Was wollt Ihr mehr?”
“Wir? Wir wollen überhaupt nichts, Herzchen.”
Der Mann drehte sich wieder um, und der Karren ratterte weiter über den ausgefahrenen Pfad. “Wir müssen etwas mit den Rädern machen”, sagte Joe. “Man kann uns ja meilenweit hören.”
“In Ordnung. Ich kümmere mich darum, bevor wir zurückfahren.”
Jetzt bogen sie in die Landstraße nach Southminster ein. Lydia erkannte die Gegend sofort, denn sie war in letzter Zeit oft hier entlanggegangen – zum ersten Mal an jenem Tag, da sie uneingeladen das Haus von Sir Arthur Thomas-Smith betreten hatte. Das war auch der Tag gewesen, an welchem Ralph sie in seiner Kutsche mitgenommen und ihr dann auch noch seinen Regenschirm geliehen hatte. Damals war er noch ihr Regenschirmmann gewesen, und von all den schrecklichen Ereignissen, die dann geschahen, war noch nichts zu ahnen. Und sie hatte auch noch nicht gewusst, dass sie den Mann lieben würde, den sie zehn lange Jahre aus tiefster Seele gehasst hatte. Und warum hatte sie ihn gehasst? War Freddie diese Treue wert gewesen? Zum ersten Mal begann sie, daran zu zweifeln.
Doch dann wurde sie auf einmal aus ihren Gedanken gerissen, denn der Karren bog gänzlich unerwartet in die Zufahrt zu Sir Arthurs Haus ein. “Warum fahren wir denn hierher?”, rief sie überrascht.
“Das wirst du schon sehen.”
Sie ließen die Vorderfront des Hauses links liegen und hielten erst mitten in der Remise an. In dem ausgedehnten Gebäude war es stockdunkel bis auf das flackernde Licht der Laterne an der Seite des Karrens. Aber selbst bei dieser armseligen Beleuchtung war zu erkennen, dass sie sich keineswegs in einem gewöhnlichen Wagenschuppen befanden, sondern in einem riesigen Warenhaus, das bis unters Dach mit Schmuggelgut vollgestopft war. Lydia hielt den Atem an. Es erschien ihr undenkbar, dass Sir Arthur nicht wusste, was auf seinem Grund und Boden vor sich ging.
Joe und sein Begleiter sprangen vom Kutschbock und erklärten den beiden anderen, die urplötzlich aus dem Schatten getreten waren, warum sie die restliche Ware noch nicht mitgebracht hatten. “Dafür haben wir aber etwas viel Interessanteres zu bieten”, sagte Joe selbstbewusst.
Noch während er sprach, spürte Lydia, dass Freddie dabei war, ihre Fesseln zu lösen. “Lauf los”, zischelte er. “Renne, wie du nur kannst, während die Kerle hier noch beschäftigt sind.”
“Und du?”
“Ich bleibe hinter dir.” Der Bruder stieß sie förmlich vom Wagen. Sie eilte zum Tor und direkt in die Arme von Sir Arthur Thomas-Smith.
“Nun, nun, Miss Fostyn”, sagte er kopfschüttelnd. “Welch unerwartetes Vergnügen.”
“Sie haben mich gezwungen …” Lydia wies mit dem Kopf in die Richtung der Männer, die in ein Handgemenge mit Freddie verwickelt waren.
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