Ballnacht in Colston Hall
Gedanken versunken, und fuhr dann fort: “Ziehe es doch wenigstens in Betracht, bitte.”
Lydia seufzte, denn sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. “Also gut, ich habe ihn gestern Abend getroffen und ihn ermutigt, seine Aufwartung bei dir zu machen. Wenn er kommt, kannst du ihm zu verstehen geben, dass ich seiner Werbung nicht ablehnend gegenüberstehe.” Plötzlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. “Aber lasse es bitte nicht zu erpicht klingen, Mama.” Sie erhob sich. “Und nun gehe ich nach Malden, um mir ein Buch aus der Leihbibliothek zu holen. Soll ich irgendetwas mitbringen?”
“Nein, danke, Kind.”
Da Partridge im Garten beschäftigt war, entschloss sich Lydia, die drei Meilen zu der kleinen, am Zusammenfluss der zwei schmalen Wasserläufe Chelmer und Blackwater gelegenen Stadt zu Fuß zu gehen. Es war ein herrliches Wetter, und in der Malden-Bucht konnte man zahlreiche Fischerboote vom Fang heimkehren sehen. Auf den Wiesen weideten Schafherden, und die Stute des Bauern Carter führte stolz ihr graubraunes Fohlen vor, das auf seinen langen dünnen Beinen vergnügt umhersprang und sich des Lebens freute. Der Tag war so recht dazu geeignet, Geist und Seele zu erfrischen, und Lydia hätte sich gern des Spazierganges erfreut, wenn ihre Gedanken nicht von dem Zwiespalt in ihrem Herzen in Anspruch genommen worden wären.
Es war einfach für die Mutter zu erklären, Hass sei sündhaft. Aber wie konnte sie, Lydia, ruhig bleiben bei der Aussicht, einen Mann heiraten zu müssen, der alt genug war, ihr Vater zu sein, wenn es gleichzeitig solche Männer auf der Welt gab wie den Fremden mit dem Regenschirm? Wenn sie ihm nie begegnet wäre, dann könnte sie vielleicht gleichmütiger einer Hochzeit mit Sir Arthur entgegensehen. Doch der Unbekannte hatte ein Gefühl von Sehnsucht in ihr erweckt – Sehnsucht nach … ja, wonach? Nach Liebe? Nach Leidenschaft? Genau konnte sie es nicht sagen. Aber diese Sehnsucht drängte alles andere in den Hintergrund.
Sie wusste, dass es ungehörig war, so etwas auch nur zu denken. Sie war zu einer sittsamen jungen Dame erzogen worden und hätte noch vor einer Woche nicht ahnen können, dass es solche Gefühle überhaupt gab. Und deshalb hatte sie auch keine andere Wahl, als diese Gedanken und Gefühle zu unterdrücken, gänzlich aus ihrem Leben zu verbannen und den jungen Mann mit seinem gefährlich bezwingenden Blick zu vergessen.
Ralph Latimer hatte den Abend zuvor mit einem Glas Weinbrand in der Bibliothek von Colston Hall über Rechnungen, Berichten und Akten verbracht, um sich ein Bild von der Lage des Besitzes zu machen. Was er dabei entdeckte, hatte ihn beunruhigt, und so machte er sich denn am anderen Morgen zu Fuß auf den Weg, um die Einzelheiten selbst in Augenschein zu nehmen.
In Lederbreeches und Stulpenstiefeln, einen braunen Wollmantel über dem dunkelblauen Rock, war er auf seinem Grund und Boden von Bauerngehöft zu Bauerngehöft gegangen und hatte mit den Pächtern die notwendigen Reparaturen und Verbesserungen besprochen. Hier musste ein Dach instand gesetzt werden, dort brauchten Fenster eine neue Verglasung oder die Außenwände einen neuen Putz. Und wenn die Entwässerungsgräben nicht gesäubert wurden, drohte im Winter eine Überschwemmung.
Immer wieder pries Ralph dabei das Schicksal, das ihn zu einem reichen Mann gemacht hatte, denn im anderen Falle wäre er an all diesen Aufgaben Bankrott gegangen. Und er war doppelt dankbar dafür, als er die Schäden in der alten Kirche und das vom Holzwurm zerfressene Gestühl besichtigte und wusste, dass ihm die nötigen Mittel zur Reparatur zur Verfügung standen. Zufrieden gönnte er sich noch ein Viertel des besten Bieres im Dorfgasthof und machte sich dann auf den Heimweg. Er schlug die alte Landstraße aus der Römerzeit ein, die am Moor vorüberführte und an dem Gehölz, in dem jagdbare Vögel lebten. Bäume waren in dieser Gegend eine Seltenheit, und nur reiche Leute hatten einige davon entsprechend der neuesten Mode auf dem Gebiet der Landschaftsgestaltung in ihren Gärten stehen. Doch bereits Ralphs Urgroßvater hatte seinerzeit diesen Wald anlegen lassen und der erst kürzlich verstorbene Earl dann einen Wildhüter eingestellt, der sich darauf verstand, Schnepfen und allerlei andere Vögel für die Jagd aufzuziehen, und nun den Wald als seinen ureigensten Bereich betrachtete.
Der Weg war schlecht gepflegt, und je weiter Ralph ihn verfolgte, desto öfter musste er dichtem Unterholz
Weitere Kostenlose Bücher