Ballnacht in Colston Hall
also ein bisschen mehr Zeit?” Gespannt blickte Mrs Fostyn auf den jungen Earl.
Nachdenklich betrachtete Ralph die Frau, die so reglos vor ihm auf dem Sofa saß. Obwohl es ihm unmöglich war zu verzeihen, dass ihr Sohn ihn zu diesem sinnlosen Duell gezwungen hatte, und er überzeugt war, dass auch sie nicht vergessen konnte, was er ihr angetan hatte, konnte er es sich letzten Endes leisten, großmütig zu sein – zumal Freddie nicht im Lande war. Merkwürdigerweise hatte die Mitteilung, dass sein einstiger Jugendfreund dasselbe schwere Schicksal hatte erleiden müssen wie er selbst, seinen Hass ihm gegenüber gedämpft. Außerdem war Mrs Fostyn eine Mutter wie die seine, und er wusste nun, was die verstorbene Countess gelitten haben mochte. Alles das machte ihn nachdenklich.
“Nun gut”, sagte er nach einigem Zögern, “Ihr könnt bleiben, bis Lydia geheiratet hat. Ich hoffe, dass sie in ihrer Ehe glücklich wird.”
“Oh, Mylord, ist das Euer Ernst?”
“Ich pflege nicht Dinge auszusprechen, die ich nicht ernst meine, Madam”, erwiderte er kühl. Er hatte getan, was die Menschlichkeit ihm gebot, und würde darüber hinaus achtgeben, dass er den Weg zum Witwensitz nicht einschlug, solange die Familie noch dort lebte.
Mrs Fostyn erhob sich und knickste. “Dann danke ich Euch von Herzen und werde Lydia Eure guten Wünsche übermitteln.”
Wortlos neigte Ralph den Kopf, und nur einen Augenblick später war die Besucherin lautlos aus dem Zimmer geglitten und er selbst wieder allein. Achselzuckend erhob er sich und ging in sein Zimmer, um sich für eine Fahrt nach Chelmsford umzukleiden. Man hatte ihm mitgeteilt, dass dort ein geschickter Handwerker ansässig sei, der das Herrenhaus und auch die Pächterhäuser für einen erträglichen Preis reparieren würde, und je eher dieser an die Arbeit ginge, desto besser, denn das Anwesen konnte in diesem Zustand weder verpachtet noch verkauft werden. Schließlich hatte sich Ralph noch nicht entschieden, ob er sich wirklich auf die Dauer in Colston Hall niederlassen wollte.
Ja, wollte er es nun oder nicht? Diese Frage stellte er sich zum wiederholten Male, während ihn die gut gefederte Kutsche über die Wege von Colston trug, an deren Rändern die Bäume ihre ersten Blättchen in die warme Frühlingsluft reckten. Es war nicht die alte Familienkutsche, die sich wie alles hier in einem äußerst ungepflegten Zustand befand, sondern ein neuer Wagen, den er sich sogleich nach seiner Ankunft in London gekauft hatte. Sollte er also bleiben? Konnte er das Leben hier in derselben Form wieder aufnehmen, wie er es vor zehn Jahren verlassen hatte – so als sei überhaupt nichts geschehen? War das überhaupt möglich?
Natürlich konnte er jetzt nicht mehr damit rechnen, die Tochter eines Herzogs zu heiraten. Selbst bis in sein Exil in Indien war nach einem Jahr das Gerücht von der vorteilhaften Verbindung gedrungen, die Juliette, die Tochter des Duke of Colchester, kurz nach seiner Abreise eingegangen war. Wer würde ihn jetzt noch nehmen, wenn die Gerüchte über jenes unselige Ereignis immer noch nicht verstummt waren? Immerhin war er jetzt immens reich und könnte sich die Beste aussuchen. Vielleicht die unbekannte Schöne aus Chelmsford? Ralph lächelte. Sie hatte gestern Abend neben Sir Arthur gestanden. Wahrscheinlich war sie seine Tochter. Aber dann schüttelte er den Kopf. Nein, nein, das wäre ganz und gar unmöglich, denn dann würde er Lydia Fostyn zu seiner Schwiegermutter machen, und dieser Gedanke war einfach lächerlich.
Als Ralph mit dem Handwerksmeister handelseinig geworden und in seine Kutsche gestiegen war, bemerkte er nach kurzer Zeit, dass es wieder einmal zu regnen begonnen hatte. Die Tropfen liefen an den Fensterscheiben herunter und erinnerten ihn aufs Neue an das Mädchen aus Chelmsford. Warum nur blieb die schöne Fremde so hartnäckig in seinem Gedächtnis? Selbst während der Gespräche über Ziegelsteine, Mörtel und schadhafte Mauern war ihr Bild vor ihm aufgetaucht und hatte ein merkwürdiges Verlangen in ihm geweckt. Ja, er war sogar töricht genug gewesen, vor der Abfahrt einen kleinen Spaziergang durch das Städtchen zu unternehmen in der Hoffnung, dem Mädchen dabei wieder zu begegnen.
An der Straßengabelung, an welcher der eine Weg nach Malden und der andere nach Colston und Southminster führte, passierte die Kutsche den Eingang zu Sir Arthurs neuem Haus. Unter angestrengtem Stirnrunzeln begann Ralph erneut darüber nachzudenken, wo
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