Ballnacht in Colston Hall
körperlichen Größe den ganzen Raum zu beherrschen, ohne irgendetwas dafür zu tun. Sein Gesichtsausdruck war gleichgültig, aber seine dunklen Augen verfolgten dessen ungeachtet jede Person im Raum äußerst aufmerksam.
Lydia war fest entschlossen, sich von ihm nicht wieder aus der Fassung bringen zu lassen. Sie tanzte schwungvoll, lachte und scherzte mit ihrem Partner, dessen Namen sie wieder vergessen hatte, und sagte schließlich atemlos: “Oh, Sir, diese schnelle Bewegung hat mich rechtschaffen durstig gemacht.”
“Dann erlaubt mir, dass ich Euch etwas zu trinken hole. Einen Likör oder Champagner?”
“Champagner! Nichts anderes.”
Leider erwies sich das prickelnde Getränk auf nüchternen Magen als nicht sehr bekömmlich. Der Saal begann sich sacht um Lydia zu drehen, und sie musste sich hastig bei ihrem Partner entschuldigen, um den Erfrischungsraum für Damen aufzusuchen. Dort sank sie in einen der Sessel, wischte sich mit einem feuchten Tuch über die Stirn und starrte entsetzt auf ihr Abbild im Spiegel. Ihre Augen glänzten unnatürlich. Auf ihren Wangen brannten zwei knallrote Flecke, während die Haut darunter graugrün schimmerte. Zu allem Überfluss war auch noch ihre Perücke verrutscht.
“Ich habe ja einen Schwips”, murmelte Lydia. “Was wird er nur von mir denken?” Aber es war keineswegs ihr Verlobter, den sie damit meinte.
Gierig trank sie eine mit Wasser gefüllte Karaffe fast aus und machte danach reichlich Gebrauch von dem Parfüm, das zum allgemeinen Gebrauch bereitstand. “Ich muss in den Saal zurückgehen”, erklärte sie ihrem Spiegelbild. “Und dort muss ich liebenswürdig zu meinem Verlobten sein. Nein, nicht nur liebenswürdig, sondern liebevoll.” Sie schob die Perücke gerade, schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und verließ den Raum.
“Miss Fostyn.” Wenige Schritte vor der Flügeltür ließ eine bekannte Stimme Lydia erstarren. Sie fuhr herum.
“Mylord! Wie habt Ihr mich erschreckt!”
“Das ist mir nicht entgangen. Darf ich fragen, vor wem Ihr Euch versteckt?”
“Versteckt? Ich habe mich nicht versteckt, sondern nur etwas erfrischt und von der Anstrengung des Tanzens erholt …”
“Ja, ja, ich sehe.” Die braunen Augen glitzerten vergnügt. “Ich sehe einen sanft wogenden Busen, Hände, die ständig in Bewegung sind, und leuchtende Augen. Alles in allem also Zeichen von Erregung.”
Ärgerlich klappte Lydia den Fächer zusammen, mit dem sie sich Kühle zugefächelt hatte. “Welcher Unsinn! Die Tatsache, dass Ihr unser Grundherr seid, berechtigt Euch noch lange nicht dazu, beleidigende Bemerkungen zu machen.”
“Oh, ich wollte Euch nicht beleidigen. Im Gegenteil. Ihr seht von Kopf bis Fuß wie eine Duchesse aus.”
“Ach, lasst diese Narreteien.”
“Nun, dann wenigstens wie eine Countess.” Ralphs Stimme war weich und einschmeichelnd, und Lydia bemerkte zu spät, dass er wieder mit sanften Worten und zärtlichen Blicken ihren Schutzwall durchbrochen hatte. Aber da sie sich einem weiteren Wortgefecht nicht gewachsen fühlte, reckte sie die Schultern und sagte: “Bitte, lasst mich durch.”
“Erst wenn Ihr mir erklärt, warum Ihr meinem Rat nicht gefolgt seid.”
“Welchem Rat?”
“Sir Arthur nicht zu heiraten.”
“Ich habe Sir Arthur nicht geheiratet.”
“Noch nicht. Aber Ihr habt eingewilligt, es zu tun, und das lässt sich ohne einen großen Skandal nicht mehr ändern.”
“Und warum sollte ich es ändern?”
Ralph zuckte die Achseln. “Weil Ihr es bereuen werdet. Jeder Mensch bereut einmal etwas. Das Schwierige daran ist nur, dazu zu stehen und die Dinge aus der Welt zu schaffen, die nun einmal geschehen sind.”
“Das solltet Ihr in der Tat können”, versetzte Lydia. “Aber Tote kann man nicht wieder lebendig machen. Im Übrigen wünsche ich nicht, darüber zu reden, und ganz besonders nicht mit Euch.”
“Vielleicht bin gerade ich aber derjenige, mit dem Ihr darüber reden solltet.”
“Nein! Und nun geht mir aus dem Weg!” Sie wollte Ralph wegschieben, doch er ergriff ihre Hände und hielt sie daran gefangen.
“Habt Ihr es so eilig, an Sir Arthur gefesselt zu werden? Hängt es etwa mit dem neuesten Gerücht zusammen, das auf diese Weise zum Schweigen gebracht werden soll?”
“Ein neues Gerücht?” wiederholte Lydia entsetzt.
“Ja, über meinen Vater und Eure Mama. Ihr habt doch sicherlich davon gehört?”
“Die ganze Welt hat es schon gehört. Aber wenn Ihr meint, Sir Arthur würde sich
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