Ballnacht in Colston Hall
vielleicht, Mylord.”
“Nun, ich missgönne Euch einen Kaninchenbraten für den Sonntag nicht”, sagte der Earl schmunzelnd. “Aber sagt es niemandem im Dorf, sonst muss ich außer Schmugglern auch noch Wilderer jagen.”
Überrascht blickte Lydia zu ihm auf. “Jagt Ihr immer noch Schmuggler?”
“Ich halte Ausschau nach den Männern, die die Unverschämtheit haben, mein Land und meine Hütte für ihr dunkles Treiben zu missbrauchen.”
“Das ist Euer gutes Recht, Mylord.” Lydia hätte dieses Gespräch gern beendet, denn es beunruhigte sie, zumal sie vermutlich ein Beweisstück in ihrer Manteltasche verbarg. “Aber jetzt sind sie doch bestimmt nicht hier. Glaubt Ihr, sie würden bleiben, nachdem sie ihre Konterbande ausgeladen haben?”
“Natürlich nicht. Aber die Hütte wird offensichtlich regelmäßig benutzt. Alle Anzeichen sprechen dafür. Sie werden also wiederkommen.”
“Dann werde ich diesen Pfad in Zukunft tunlichst meiden, solange ich noch in Colston lebe. Es wird Euch freuen zu hören, dass es nur noch zwei Monate sind.”
“Ach ja, ich erhielt eine Einladung von Sir Arthur für eine Abendgesellschaft, die morgen stattfindet. Bei dieser Gelegenheit soll vermutlich Eure Verlobung gefeiert werden, nicht wahr?”
“Ja, Mylord.” Lydia zwang sich zu einem Lächeln. “Und die Hochzeit soll im Frühsommer stattfinden. Wäre Euch dieser Zeitpunkt angenehm?”
“Mir?” Ralph Latimer schien ehrlich überrascht zu sein. “Was habe ich denn mit dieser Angelegenheit zu tun?”
“Nun, je früher ich heirate, desto eher seid Ihr mich und meine Familie in dem Witwensitz los. So war doch die Vereinbarung, die Ihr mit meiner Mama getroffen habt, oder?”
“Ja doch.” Unwillig schüttelte der Earl den Kopf. “Aber ich wiederhole dennoch: Ihr macht einen großen Fehler. Was wisst Ihr denn über diesen Mann?”
“Alles, was ich wissen muss. Er ist ein ehrenwerter Mensch und weiß, was man einer Dame schuldig ist. Guten Tag, Mylord.” Lydia warf den Kopf stolz in den Nacken, drehte sich um und entfernte sich mit eiligen Schritten in die Richtung des Dorfes.
Ralph Latimer blickte ihr lächelnd nach. Ja, stolz war sie schon. Aber war das genug? Warum nur schien es ihm immer wieder, als sei er Sir Arthur schon einmal begegnet? Nicht hier und heute – anderswo und zu einer anderen Zeit. Aber wo? Er war in den vergangenen zehn Jahren durch ganz Europa und halb Asien gereist. Es konnte also überall gewesen sein. Vielleicht in Indien? Aber er konnte sich dort an keine Person mit Namen Thomas-Smith erinnern. Vielleicht hatte er seinen Namen gewechselt?
Schließlich zuckte er die Schultern. Was ging es ihn an? Lydia wäre ohnehin nur wütend, wenn er sich auf diese Art einmischen würde, und er hatte, weiß der Himmel, mit Colston Hall genug zu tun. Im Dorf tuschelte man sich zu, er bereite alles für seine künftige Frau vor. Sicher, es wäre an der Zeit zu heiraten. Aber unter all seinen vielen Frauenbekanntschaften war bis jetzt nicht eine Einzige gewesen, die dafür in Betracht gekommen wäre.
Wie müsste die Frau sein, die ich heirate, fragte er sich, während er den Heimweg einschlug. Jung, schön, leidenschaftlich, mitfühlend – Eigenschaften, die man selten in einer Person vereint fand.
Lydia. Ungebeten stand plötzlich dieser Name vor ihm und brachte ihn ein wenig aus der Fassung. Sie waren Erzfeinde. Sie hasste ihn. Warum dachte er dann immer wieder an sie? Wie sie vor ihm gestanden hatte, windzerzaust und verletzlich … Hatte er da nicht wieder ihre Lippen spüren wollen? Dieses Gefühl der Zärtlichkeit, das er zehn Jahre lang entbehrt hatte?
Wenn sie nicht Freddies Schwester wäre, würde er sagen, er habe sich in sie verliebt. Aber er liebte niemanden aus der Familie Fostyn. Sie war schuld an der Krankheit seiner Mutter, dem frühen Tod des Vaters und seinem Exil. Wenn er nicht hätte außer Landes gehen müssen, würden beide Eltern heute noch leben. Ach, mochte es seinetwegen ein düsteres Geheimnis um Sir Arthur geben. Er würde nichts tun, um es aufzudecken.
Sobald Lydia daheim angekommen war, lief sie in ihr Zimmer, holte das Päckchen aus der Manteltasche und legte es auf den Tisch. Während sie ihren Mantel aufhängte, konnte sie den Blick nicht von dem Strandgut wenden. Ob es wohl jemand absichtlich über Bord geworfen hatte? Oder war der Mann, dem die Jacke gehörte, ertrunken? Aber wo war dann die Leiche?
Zögernd nahm sie das feuchte Bündel in die Hand und
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