Ballnacht in Colston Hall
deswegen von mir abwenden, so irrt Ihr Euch. Wir haben bereits mit ihm darüber gesprochen, und er hat erklärt, es mache ihm nichts aus.”
“Ich frage mich, warum”, murmelte Ralph mehr zu sich selbst.
“Nun, weil Sir Arthur ein Gentleman ist und dem Wort einer Dame Glauben schenkt”, erwiderte Lydia.
Ralph sah sie schweigend an. Nach einer Weile fragte er ruhig: “Glaubt Ihr denn dem Gerede?”
“Nein, natürlich nicht. Und Ihr?”
“Ich kenne meinen Vater und weiß, dass er nichts getan hätte, was geeignet gewesen wäre, meine Mutter zu verletzen, ebenso wie es dem Charakter Eurer Mutter widersprochen hätte, Schande über die Familie zu bringen. Ich habe große Hochachtung vor ihr.”
“Ihr könntet das Gerücht aus der Welt schaffen, indem Ihr es als Lüge entlarvt.”
“Oh nein, das Gegenteil wäre der Fall. Nichts festigt ein Gerücht mehr, als wenn man es bestreitet. Das liegt in der menschlichen Natur begründet.”
“Und warum habt Ihr es dann überhaupt erwähnt?”
“Weil mir Sir Arthurs Selbstlosigkeit unerklärlich ist.”
“Ihr könnt ihn nicht leiden, nicht wahr?”
Ralph schüttelte den Kopf. “Er ist mir völlig gleichgültig.” Doch das entsprach nicht der Wahrheit. Wenn ich nur wüsste, wo ich diesen Mann schon einmal gesehen habe, wäre ich sicherlich nicht so beunruhigt, sagte er sich. Er gab Lydias Hände frei und reichte ihr den Arm. “Und um zu zeigen, dass wir keinen Groll gegeneinander hegen, erlaubt mir, Euch in den Saal zurückzuführen.”
Sie legte ihre Finger auf seinen Ärmel und spürte selbst durch den festen Stoff seines Rockes das erregende Gefühl seiner körperlichen Nähe. Hasse ihn, befahl sie sich. Hasse ihn. Das ist der einzige Ausweg.
Die beiden gaben ein schönes Paar ab, als sie zur Tanzfläche schritten – er in Schwarz und sie in Weiß und Silber. Und wenn irgendjemand meinte, sie passten besser zusammen als das künftige Brautpaar, so war doch keiner so indiskret, diese Feststellung auch auszusprechen, wenngleich die Blicke und die lächelnden Mienen genug verrieten.
Als der Tanz zu Ende war, verabschiedete sich der Earl, obwohl es noch nicht Mitternacht war. Er schickte den Wagen fort und machte sich zu Fuß auf den Heimweg, um in Ruhe über seine jüngste Begegnung mit Miss Fostyn nachdenken zu können. Die Abneigung, die er ihr gegenüber empfunden hatte, war vergangen – davongeweht wie von dem Wind, der vom Meer herüber fegte. Und wie waren ihre Gefühle? Bei dieser Frage stand er vor einem Rätsel. Einmal war sie freundlich und im nächsten Augenblick voller Bosheit und Hass. In einer solchen Situation erwiderte er ihre Hitzigkeit mit brennender Glut. Er war dann kurz angebunden, barsch und verletzend – aber nur um sich zu schützen. Was wollte er denn eigentlich? Wusste er es überhaupt? Doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Sie war mit Sir Arthur verlobt, und nichts außer dem Tod oder einer größeren Katastrophe konnte daran noch etwas ändern.
6. KAPITEL
Nachdem Ralph Latimer gegangen war, gesellte sich Lydia wieder zu den Gästen. Aber nun war der belebende Effekt des Champagners verflogen, und sie fühlte sich nur noch müde und zerschlagen. Am liebsten würde sie ins Bett gehen und in einen tiefen Schlaf des Vergessens sinken. Die Musik war ihr zu laut. Den Geruch nach Schweiß und Essensresten fand sie widerwärtig, und die Unterhaltung schien ihr ein einziges Stimmengewirr zu sein.
Schließlich entdeckte sie ihre Mutter im Gespräch mit der Marchioness of Brotherton. Sie unterhielten sich über die Aufführung einer Theatertruppe, die kürzlich in Malden aufgetreten war. Als Mrs Fostyn ihrer Tochter ansichtig wurde, entschuldigte sie sich rasch bei ihrer Gesprächspartnerin und eilte auf Lydia zu.
“Lydia, was ist mit dir?”, fragte sie halblaut. “Du siehst gar nicht wohl aus.”
“Mir ist nicht gut, Mama. Meinst du, wir könnten nach Hause gehen?”
Die Mutter hatte Lydias ein wenig zu eingehende Bemühungen, fröhlich zu erscheinen, wohl bemerkt, versagte sich aber jedweden Kommentar dazu, sondern nickte nur kurz. “Vielleicht wäre es wirklich das Beste. Ich werde mit Sir Arthur sprechen. Aber du musst dich jetzt zusammennehmen und dich von jedem Gast höflich verabschieden, sonst denkt man noch, du habest keine Manieren. Und dabei lächeln, Lydia”, mahnte sie. “Lächeln!”
Gehorsam reichte Lydia jedem im Saal die Hand und erklärte immer wieder, es sei ein so herrlich aufregender Tag
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