Ballnacht in Colston Hall
für sie gewesen, dass sie nun die Müdigkeit überwältigt habe. Sir Arthur war voller Verständnis, sagte, sie solle sich keinesfalls übernehmen, küsste flüchtig ihre Wange und überließ seine Braut dann der Obhut ihrer Mama. Mrs Fostyn hatte noch einige Mühe, die ärgerlich protestierende Annabelle zum Aufbruch zu veranlassen. Doch zu guter Letzt konnten die drei Damen endlich in die bereits vorgefahrene Kutsche einsteigen und es sich darin nach Wunsch bequem machen. Unterwegs überholten sie den Earl of Blackwater auf seinem einsamen Heimweg. Doch keiner der Insassen bemerkte ihn.
Daheim half die Mutter Lydia beim Auskleiden, brachte sie zu Bett und zog fürsorglich die Decke über ihre eiskalten Schultern. “Schlaf gut, mein liebes Kind”, flüsterte sie zärtlich. “Morgen wirst du dich schon wieder besser fühlen.”
Lange nachdem die Mutter gegangen war, starrte Lydia noch immer schlaflos an die dunkle Zimmerdecke. Würde sie sich morgen wirklich besser fühlen? Und was wäre an all den darauf folgenden “morgen”? Bald würde sie in einem anderen Bett in einem anderen Haus liegen, dessen Herrin sie dann wäre, und sie sollte stolz und froh darüber sein. Es gab kein Recht auf Liebe in einer Ehe. Die Aufgabe des Mannes war, seiner Frau ein Heim zu bieten, Kleidung und so viel Luxus, wie er sich leisten konnte, als Gegenleistung für die Besorgung des Haushaltes durch seine Frau und die Betreuung der Kinder. Sie hatte ihm einen Erben zu schenken – wenn möglich, mehr als einen.
Sollte sich der Mann eine Geliebte zulegen, so durfte ihm die Frau um keinen Preis eine Szene machen. Sie musste die Augen zudrücken und die Rivalin hinnehmen. Ob Sir Arthur sich wohl eine Geliebte anschaffen würde? Oder hatte er vielleicht schon eine? Nun, mir kann es recht sein, dachte Lydia. Dann verlangt er wenigstens von mir nicht zu viel. Was für ein Beginn für eine Ehe!
Ach, sie konnte sich vorstellen, dass es auch ganz anders sein könnte. Wenn der Fremde mit dem Regenschirm nicht ihr verhasster Feind gewesen wäre. Drei Mal hatte sie ihn getroffen, bevor sie wusste, wer er war, und bis dahin alle ihre glücklichen Träume um ihn gesponnen. Sie schloss die Augen und versuchte, sein Bild zurückzurufen und jenes freudige, atemberaubende Gefühl dieser drei Begegnungen. Bald war sie wieder in der ratternden Kutsche und bot ihm lächelnd ihre Lippen, und er lächelte zurück mit seinen sanften braunen Augen und küsste sie …
Der Mann dieser Träume befand sich noch immer auf seinem einsamen Heimweg und passierte dabei Wahrzeichen seiner Kindheit und Jugend: die alte Kirche, in der seit Generationen seine Familie den Gottesdienst besuchte, den Dorfanger und die zwei Gasthöfe. Er erinnerte sich dabei an das sorglose Kind, das Lydia einstmals gewesen war. Jetzt war sie eine schöne junge Frau – schön, aber verbittert. Wahrscheinlich hatte sie Grund, verbittert zu sein, insbesondere seit seine Rückkehr all die losen Zungen wieder in Bewegung gesetzt hatte und es den Schwätzern dabei gleichgültig war, ob ihr Gerede der Wirklichkeit entsprach oder nicht.
Konnte an dem Gerücht über seinen Vater und Mrs Fostyn, das Robert Dent ihm am Morgen zugetragen hatte, etwas Wahres sein? Sicherlich, sein Vater war ein kraftvoller und gesunder Mann, und die Ehe der Eltern war von deren Familien vereinbart worden, also keine Liebesheirat gewesen. Aber dennoch, so nahe bei seinem Haus? Und die Frau des Pfarrers? Vielleicht hatten sich die beiden schon vorher gekannt und der Wohnsitz in Colston war ein Teil ihrer Abmachung gewesen? Nein, nein, sein Vater hätte nie etwas so Hinterhältiges getan. Wenn aber an der Sache nichts dran war, woher kam dann dieses Gerücht?
Hatte Freddie davon gehört? War das vielleicht der eigentliche Grund für seine Feindseligkeit gewesen und jenes Mädchen nur der willkommene Anlass, um seinen Zorn an irgendjemandem auszulassen, wenn es schon der Earl selbst nicht sein konnte? Hatte es Mr Fostyn auch geglaubt? Der Pfarrer hatte an jenem verhängnisvollen Morgen kein Wort gesprochen, aber er hatte ja auch keine Gelegenheit mehr dazu gehabt. Arme Lydia! Ihr Hass war verständlich. Doch sie war nun kein Kind mehr und musste endlich den Tatsachen ins Gesicht sehen. Wenn sie es nicht täte, würde sie nie Frieden finden. Und er selbst wohl auch nicht.
Den ganzen Rest des Weges durchsuchte Ralph seine Erinnerungen nach irgendwelchen Zeichen, die das Gerücht bestätigen oder widerlegen konnten.
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