Ballnacht in Colston Hall
davonfahrenden Wagen nach.
7. KAPITEL
In dieser Nacht träumte Lydia von dem Duell. Es war ein merkwürdiger und beunruhigender Traum, denn außer ihr waren auch noch die Mutter, der alte Earl und Sir Arthur, ganz in Gold gekleidet, anwesend. Alle redeten laut aufeinander ein und gestikulierten heftig. Dabei war ein Duell doch eigentlich eine düstere Angelegenheit, nicht wahr? Schließlich sollte dabei ein Mensch verwundet oder gar getötet werden. Lärmende Debatten passten überhaupt nicht dazu. Die eigentlichen Hauptpersonen standen indes am Rande und beobachteten, wie ihre Angehörigen über das Für und Wider argumentierten, so als hätten sie selbst gar nicht mehr darüber zu entscheiden.
Lydia wollte sich im Traum in den Streit einmischen, doch die Stimme versagte ihr. Sie musste schweigend zusehen, während der Mann in Gold sie so unnachgiebig an den Handgelenken festhielt, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihr Bruder sah alt aus, so alt wie ihr Vater, und dabei wusste sie genau, dass er erst siebzehn Jahre alt war. Und Ralph, den sie bis zu diesem Zeitpunkt immer für einen Freund gehalten hatte, war riesengroß, und seine Augen glühten wie zwei Feuer.
Endlich fand die Auseinandersetzung ein Ende. Die beiden Kontrahenten gingen auf die Wiese und hoben die Pistolen. Ralph zielte zuerst auf Freddie, dann auf den Vater. Lydia wollte “Nicht!” rufen, doch es kam kein Ton aus ihrer Kehle. Da wandte sich Ralph zu ihr um und richtete die Mündung seiner Waffe auf sie. Ein Knall ertönte. Im selben Augenblick erschlaffte der Griff an ihren Handgelenken, und Sir Arthur sank auf den Boden.
Schweißgebadet erwachte Lydia und richtete sich im Bett auf. Der Traum war so wirklichkeitsnah gewesen wie eine Szene aus einem schaurigen Theaterstück. Sie konnte jetzt nicht mehr schlafen und auch nicht mehr im Bett liegen bleiben. Immer noch zitternd schlüpfte sie in ihr Negligé und setzte sich ans Fenster, während sie unentwegt über den Sinn des Traumes nachdachte. Was hatte Sir Arthur dabei zu suchen gehabt? Und warum war er in Gold gekleidet, während alle anderen Schwarz trugen? Warum war die Mutter da? Und der alte Earl? Und weshalb hatte Ralph Sir Arthur erschossen und sie damit von seinem Zugriff befreit?
Wahrscheinlich war der Traum nur die Verkörperung meiner Wünsche, sagte sich Lydia. Und ihr schlafendes Gehirn hatte noch die Gerüchte hineingemischt, sodass all die Personen dabei auftraten, die gar nichts mit der Sache zu tun hatten. Aber dass Ralph Latimer als ihr Retter vor dem verhassten Ehemann auftrat, war natürlich lächerlich. Das konnte nie und nimmer Wirklichkeit werden.
Doch gestern Abend war noch etwas Seltsames geschehen. Sie hatte im Dunkeln Männerstimmen gehört, die von Schiffen sprachen und von Booten, die auf die Küste zusteuerten. Oder hatte sie das vielleicht auch nur geträumt? Nein, sie hatte es ebenso wenig geträumt wie das Bündel in dem alten Rock, das einer der Männer suchen wollte. Wer konnte es nur gewesen sein?
Lydia wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Jetzt jedenfalls war sie so hellwach, dass es keinen Sinn hatte, wieder ins Bett zu gehen. Sie schob die Gardine zur Seite und blickte hinaus auf das schlafende Land. Ein paar Wolkenfetzen trieben über den Nachthimmel und verdunkelten immer wieder einmal den Mond, der den Garten in sein silbernes Licht tauchte. Zur Linken lag der dunkle Wald, während sich vor ihr und zur Rechten das Moorland erstreckte. Die Küste war nicht zu erkennen, denn sie wurde von den Dünen verdeckt. Aber dahinter glitzerte das Meer bis zum Horizont. Lydia musste an Freddie denken, der des Nachts Lichter am Strand gesehen hatte und aus dem Haus geschlichen war um nachzusehen, was da draußen vorging.
Ohne viel zu überlegen, erhob sie sich, öffnete vorsichtig die Tür und lauschte hinaus auf den Flur. Kein Geräusch war zu hören. Nun schlich sie lautlos in das Zimmer des Bruders und kramte aus der Truhe eine Hose und ein Hemd heraus sowie den Rock aus braunem Manchester, den Freddie immer bei der Entenjagd getragen hatte. Schließlich nahm sie noch den alten Dreispitz vom Haken und brachte alles in ihr Zimmer.
Dort legte sie die Sachen an. Sie war ein wenig kleiner und schlanker als der Bruder vor zehn Jahren. Doch die Hose war leicht mit einem Gürtel zu befestigen, und im Übrigen konnten ihre weiblichen Formen sehr gut durch die etwas weiteren Kleidungsstücke verdeckt werden. Zum Schluss kämmte sie noch das Haar so
Weitere Kostenlose Bücher