Ballnacht in Colston Hall
Er hatte nichts Schlechtes getan. Ihr seid es gewesen, der das Gesetz verletzt hat, nicht er. Er hatte nie begriffen, warum er das Land verlassen musste. Ich war damals noch ein kleines Mädchen …”
“Und schaut Euch heute an. Eine entzückende junge Frau.” Ralph umfasste ihre Schultern und schob sie ein wenig von sich weg, um sie näher zu betrachten. Er spürte, dass sie Angst hatte. Ihr Körper straffte sich wie in Abwehr. Fürchtete sie, er werde sie wieder küssen? Oder hatte sie wirklich etwas zu verbergen? “Es gibt nichts, wovor Ihr Angst haben müsstet, Lydia. Sagt mir einfach, wer jene Männer sind, und ich bringe Euch nach Hause. Ihr werdet ganz sicher sein.”
“Sicher?” Sie wollte zornig auflachen, aber die Aufregungen der letzten Tage, der Mangel an Schlaf und alles, was sonst noch geschehen war, überwältigten sie so sehr, dass ein hysterisches Schluchzen daraus wurde. Freddie war daheim und doch nicht daheim. Und dieser verhasste Mann vor ihr schien ihren Zustand förmlich zu wittern. “Sicher? Warum sollte ich nicht sicher sein? Niemand in Colston würde mir etwas zuleide tun.”
“Wirklich nicht? Aus welchem anderen Grund sollte ich Euch hierher gebracht haben, als Euch zu beschützen?”
“Ihr mich beschützen! Verhören wäre wohl das richtigere Wort. Also, wenn Ihr mich nun genug gefragt habt, werde ich mich jetzt verabschieden.” Lydia versuchte, seine Hände abzuschütteln, doch sein Griff wurde nur noch fester. “Lasst mich gehen, Mylord. Ich habe Euch nichts mehr zu sagen.”
Trotz der harten Worte, die sie einander sagten, und der Entschlossenheit, ihre seit zehn Jahren genährte Feindschaft aufrechtzuerhalten, hatte sich auf einmal etwas Stärkeres Raum geschaffen, etwas, das sie unwiderstehlich zueinander hinzog. Und als Lydia die Lider hob, um Ralph anzusehen, erkannte sie, dass auch er es bemerkt hatte.
Wenn er noch immer der Regenschirmmann aus Chelmsford wäre – wenn es jenen Abend im Walde nicht gegeben hätte – wenn er sie nicht beschuldigt hätte, gemeinsame Sache mit den Schmugglern zu machen … dann, ja dann, würde sie sogar glauben, sie habe sich in ihn verliebt. Aber wie könnte sie einen Mann lieben, der ihren Vater getötet und ihren Bruder zu einem gewalttätigen und verbitterten Menschen gemacht hatte?
“Lydia, wir waren nie Feinde und sollten es auch niemals sein”, sagte der Earl in diesem Augenblick.
“So, und was sollten wir dann sein?” Sie versuchte mit aller Kraft, ihre Streitsucht wieder anzufachen, aber sie war müde, ach, so müde. Ihre Beine waren kraftlos, und der Kopf war schwer wie Blei. Wenn Ralph sie nicht festgehalten hätte, wäre sie zu seinen Füßen niedergesunken.
“Freunde”, flüsterte Ralph. “Lasst uns doch wenigstens Freunde sein.”
“Das können wir nicht.”
“Und warum nicht?”
Als Lydia keine Antwort gab, legte er einen Finger unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. “Warum nicht, Lydia? Könnt Ihr die Vergangenheit nicht hinter Euch lassen und akzeptieren, dass ich zehn lange Jahre im Exil gelebt habe und nun hören möchte, dass Ihr mir verziehen habt?”
“Niemals! Niemals!”
“Aber selbst wenn Ihr nicht verzeiht – könnt Ihr behaupten, dass uns nichts verbindet? Ein Band, das uns zusammenhält, ob wir wollen oder nicht. Die Vergangenheit fesselt uns aneinander. Spürt Ihr das denn nicht?”
“Nein. Ihr seid ein Fantast.” Aber warum hatte er nur von einem geheimen Band zwischen ihnen gesprochen – dasselbe, was sie bei ihrer ersten Begegnung in Chelmsford gefühlt hatte? Manchmal könnte sie sich beinahe vorstellen, er sei wirklich jener Fremde mit dem Regenschirm, freundlich, humorvoll, zartfühlend.
“Ich denke nicht, dass ich ein Fantast bin. Soll ich es Euch beweisen? Ja?” Ralph nahm ihr Gesicht in beide Hände, neigte sich herab und küsste ihre Lippen.
Die Wirkung war fast dieselbe wie seinerzeit im Wald, nur nicht ganz genauso. Damals war er hart und grausam gewesen, hatte sie unterdrücken wollen, und sie hatte sich dagegen gesträubt, wenn auch ihr verräterischer Körper ungewollt Antwort auf den verwirrenden Reiz gegeben hatte. Jetzt waren seine Lippen so sanft und doch eindringlich fordernd. Sie lösten ein erregendes Prickeln in ihrem Magen aus, das sich bis in die Oberschenkel fortsetzte. Wieder wollte sie sich dagegen auflehnen, doch ihre Bemühungen blieben erfolglos. Wie von selbst öffnete sich ihr Mund, und nun rief seine Zungenspitze ein so heftiges
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