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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Nichols
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über die Freude, die daheim herrschen würde, wenn der Bruder nach Hause kam. Es war herrlich – überwältigend – der glücklichste Tag ihres Lebens – oder er könnte es zumindest sein, wenn nicht alles so geheimnisumwittert wäre. Ganz in ihre Gedanken versunken, setzte sie den Hut wieder auf, erhob sich langsam und machte sich auf den Heimweg.
    Nach wenigen Schritten aber packte sie jemand am Arm und riss sie wieder zurück. Entsetzt schrie sie auf, als sie eine drohend erhobene Faust erblickte, die sich jedoch sogleich wieder senkte. “Ach, Ihr seid es wieder”, sagte eine bekannte Stimme. “Ich hätte es wissen müssen.”
    “Ralph Latimer!” Diese formlose Anrede, ohne jedweden Titel, kam Lydia unbewusst über die Lippen. Aber sie würde sich nicht dafür entschuldigen. Um keinen Preis!
    “Wie Ihr seht”, erwiderte Ralph kühl, ohne auf ihre Unhöflichkeit einzugehen.
    “Lasst mich los. Ihr tut mir weh.” Sie versuchte vergebens, sich loszureißen.
    “Nein, Ihr kommt jetzt mit mir, und wir werden dieser Angelegenheit ein für alle Mal auf den Grund gehen.”
    Auf jedem Schritt des erzwungenen Heimweges sträubte sich Lydia aufs Neue, denn sie wusste, dass sich Freddie desto eher in Sicherheit bringen konnte, je länger sie den Earl zurückhalten würde. Jetzt trieb sie keine Neugier mehr und auch nicht der Wunsch, Ralph Latimer einen Streich zu spielen, sondern es ging um die Freiheit, ja, vielleicht sogar um das Leben des geliebten Bruders. Und sie würde diesem Mann nie und nimmer erlauben, Freddie ein zweites Mal zugrunde zu richten.
    Und so blieb dem Earl of Blackwater nichts anderes übrig, als seine widerspenstige Begleiterin halb zu zerren und halb zu tragen, bis sie endlich Colston Hall erreicht hatten. Er schob sie durch eine Seitentür über einen endlosen Korridor in die mit Büchern angefüllte Bibliothek. Dort drückte er Lydia in einen Armstuhl und ließ sich selbst auf der Kante des Schreibtisches nieder, nahe genug, um sofort zugreifen zu können, wenn sie Anstalten machen sollte zu fliehen.
    Verzweifelt versuchte Lydia, ein wenig von Würde zurückzugewinnen. Wie sollte ihr das aber gelingen, gekleidet wie ein Mann in Rock und Hosen, die von Sand bedeckt waren, mit wirren Haaren und zitternd vor Angst und Kälte?
    Ralph Latimer unterdrückte ein Lächeln. Seine Besucherin saß ganz offensichtlich in der Patsche, was sie jedoch auf eine bestimmte Art noch anziehender machte. Er bewunderte ihren Mut, mit dem sie sich mitten in der Nacht aufgemacht hatte, um einer Bande von Schmugglern aufzulauern. Dabei hatte er sich geschworen, ihr keinesfalls zu erlauben, dass sie sich unter seinen schützenden Fittichen verkriecht und ihn von seiner Absicht abbringt, sie ebenso zu verhören wie jeden anderen Gesetzesbrecher. Aber er brauchte ja seine ganze Kraft, um sich selbst davon zurückzuhalten, sie in die Arme zu nehmen und ihr tröstend zuzuflüstern, dass er alles wieder in Ordnung bringen werde! Ach, zum Teufel, sein Herz war doch wahrhaftig zum Verräter seines Verstandes geworden.
    Er wandte sich um, füllte ein Glas mit Branntwein und reichte es Lydia. “Hier, trinkt, es wird Euch wärmen”, sagte er kurz und fügte dann mit einem ironischen Lächeln hinzu: “Er ist ordnungsgemäß versteuert.”
    Lydia zögerte einen Augenblick, doch Furcht und Kälte waren stärker als ihre selbsterzwungene Zurückhaltung. Das starke Getränk kratzte in der Kehle und brannte im Magen, erreichte jedoch nicht, dass sie sich besser fühlte. Wo mochte Freddie hingegangen sein? Was hatte er vor? Wann würde er nach Hause kommen? Wie sollte sie den morgigen Tag überstehen, ohne ein Wort verlauten zu lassen, da ihr doch die Nachricht von der Rückkehr des Bruders auf der Seele lag?
    Ralph beobachtete, wie sie vorsichtig an dem Branntwein nippte, und versuchte sich dabei vorzustellen, was sie wohl denken mochte. Als sie ausgetrunken hatte, nahm er ihr das Glas weg und sagte: “Und nun, Miss Fostyn, will ich die Wahrheit wissen, wenn es Euch beliebt.”
    “Die Wahrheit ist, dass ich des Nachts gern an der Küste umherstreife”, entgegnete Lydia trotzig. “Das ist doch nicht verboten, nicht wahr?”
    “Natürlich gibt es kein Gesetz dagegen. Aber es verstößt sowohl gegen den Anstand als auch gegen den gesunden Menschenverstand.”
    “Und ebenso natürlich seid Ihr auf beiden Gebieten ein Experte.”
    “Ich würde nicht mit Euch hier sitzen, wenn ich das wäre. Doch ich bin sicher, dass man Sir

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