Ballnacht in Colston Hall
bist du nicht sofort nach Hause gegangen, wie ich es dir gesagt habe?”
“Ich war ja auf dem Weg dorthin. Aber Seine Lordschaft hat mich gesehen und …”
“Du meinst Ralph Latimer?”
“Ja, wen sonst. Er ist doch jetzt der Earl.”
“Wie schön für ihn. Und was hatte er noch so spät draußen zu suchen? Geht er auch gern des Nachts spazieren? Oder habt ihr euch absichtlich getroffen?” Seine Worte klangen bitter und ärgerlich, aber Lydia sagte sich sogleich, dass er ja auch allen Grund dafür hatte. Bis heute Abend noch hätte sie dasselbe empfunden – oder zumindest zu empfinden geglaubt. Doch jetzt wusste sie, wie es wirklich um sie stand, und die Gegenwart des Bruders brachte sie ein wenig aus der Fassung.
“Natürlich nicht. Wie kannst du nur so etwas denken, Freddie! Im Übrigen zweifle ich nicht daran, dass er aus demselben Grunde wie ich unterwegs war – nämlich um die Schmuggler zu beobachten.”
“Was hast du ihm gesagt?”
“Nichts.”
“Warum bist du dann mit ihm ins Herrenhaus gegangen? Was hat er dort mit dir gemacht? Wenn er dir auch nur ein Haar gekrümmt hat, dann …”
“Er hat überhaupt nichts gemacht, Freddie”, erklärte Lydia hastig. “Ich ging freiwillig mit, um dir Zeit zu geben, dich in Sicherheit zu bringen. Wenn ich allerdings gewusst hätte, dass du keine Anstalten machst zu verschwinden, hätte ich mir die Mühe sparen können.”
“Ich musste sicher sein, dass du mich nicht verrätst.”
“Aber Freddie, ich habe es dir doch versprochen.”
“Du darfst keinesfalls irgendjemandem sagen, dass du mich gesehen hast, hörst du.”
“Auch nicht Mama?”
“Nein. Erst wenn ich es dir erlaube.”
“Warum denn nicht, Freddie? Was ist denn los mit dir? Steckt mehr dahinter als nur Schmuggel?”
“Ach was, natürlich nicht”, erwiderte er. Aber Lydia, die sich der Worte Ralphs über Spione erinnerte, glaubte ihm nicht. “Ich will nur endlich an Ralph Latimer Rache nehmen. Zehn Jahre habe ich darauf gewartet. Zehn lange Jahre …”
Diese Ankündigung beunruhigte Lydia aufs Äußerste. Das war doch nicht mehr der freundliche Junge, mit dem sie aufgewachsen war, sondern ein harter und rauer Mann. Wahrscheinlich hatten die Jahre im Exil ihn so verändert. “Was hast du denn vor mit ihm, Freddie?”
“Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen. Aber ich werde deine Hilfe dabei brauchen.”
“Meine Hilfe? Wozu? Oh, Freddie, du solltest dir gut überlegen …”
“Ich habe lange genug überlegt. Er soll bezahlen für das, was er getan hat. Aber nun muss ich gehen.”
Während ihres Gespräches waren die beiden Geschwister den Weg weiter entlanggegangen und standen nun unmittelbar vor dem Eingangstor des Witwensitzes. Lydia blieb stehen und legte die Hand auf die Klinke. “Komm doch mit herein, Freddie, und sprich mit Mama”, bat sie.
“Ihr wohnt hier?”, fragte er ungläubig.
“Nun, wir konnten ja nicht gut im Pfarrhaus bleiben, nicht wahr? Der alte Earl räumte uns hier eine Wohnung ein.” Beruhigend legte sie dem Bruder die Hand auf die Schulter, als sie seine ärgerliche Miene bemerkte. “Wir haben uns so viel zu erzählen, Freddie – alles, was in zehn Jahren geschehen ist. Kannst du wirklich nicht mit hereinkommen und ein wenig bleiben?”
“Nein”, erwiderte Freddie schroff. “Ich werde dir eine Botschaft zukommen lassen, wenn wir uns wieder treffen können. Und noch einmal, Lydia, kein Wort! Sonst könnte die Sache sehr unangenehm werden – wirklich, sehr unangenehm.” Mit diesen Worten wandte er sich um und lief davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Lydia blickte ihm nach, bis er im Dunkeln verschwunden war, und versuchte dabei, mit den neuen, überraschenden Tatsachen ins Reine zu kommen. Freddie war offensichtlich nicht mehr der Bruder, den sie so geliebt hatte, und Ralph Latimer nicht mehr der Mann, den sie gehasst hatte. Wie konnte sie jetzt hineingehen und zu niemandem ein Wort sagen? Die Mutter würde ohnedies merken, dass etwas geschehen war. Wie sollte sie es erklären? Und was erwartete Freddie eigentlich von ihr?
Langsam dämmerte bereits der Morgen herauf, und sie trug noch immer Männerkleider. Wenn Mama sie so sehen würde, gäbe es tausend Fragen und ebenso viele Ausflüchte. Und dabei hatte man ihr doch schon als Kind beigebracht, dass man nicht lügen durfte.
Rasch eilte Lydia ums Haus und schlüpfte durch die Küchentür. Aber Janet war bereits auf den Beinen und schürte das Feuer im Herd. Als sie Lydia
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