Ballnacht in Colston Hall
erkannte, riss sie Mund und Augen weit auf. “Oh, Ihr seid es, Miss Lydia. Warum habt Ihr Euch so merkwürdig angezogen?”
Lydia legte den Finger auf die Lippen. “Psst, du weckst ja Mama auf. Sie muss nicht wissen, dass ich unterwegs war.”
Janet musterte die Kostümierung eingehend. Sie war sich bewusst, dass es ihr nicht zustand, die Tochter der Herrschaft mit Fragen zu belästigen. Aber ihre Neugier war unübersehbar, und Lydia merkte daran, dass sie sich auch dem Mädchen gegenüber eine plausible Erklärung einfallen lassen musste.
“Ich bin am Strand spazieren gegangen, um den Sonnenaufgang über dem Meer zu beobachten. Es war wundervoll, alles rosa und gold, und die Farben spiegelten sich im Wasser wider.”
“Aber so angezogen?”
“Das war genau richtig. Niemand hätte etwas dabei gefunden, wenn er einen Jungen am Strand entlanggehen sah. Aber über ein Mädchen hätte sich jeder sehr gewundert, nicht wahr? Im Übrigen geht es sich in Hosen besser.”
Janet kicherte. “Wisst Ihr, dass Ihr genau wie Master Freddie ausseht? Im ersten Augenblick habe ich gedacht, er kommt zur Tür herein. Das hat mir richtig einen Stich gegeben.”
Lydia runzelte die Stirn und erwiderte kurz: “Das ist aber ziemlich unwahrscheinlich. Er ist Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Meilen entfernt.”
“Das heißt aber nicht, dass er nicht eines Tages doch wieder nach Hause kommt, nicht wahr?”
“Vielleicht. Eines Tages.” Die nächste Zeit wird ziemlich schwierig für mich werden, dachte Lydia und unterdrückte ein Seufzen.
“Dann werdet Ihr aber nicht mehr hier wohnen. Ihr werdet Lady Thomas-Smith sein und dem Haushalt von Sir Arthur vorstehen.”
In den letzten Stunden war es Lydia zum Glück gelungen, jenen leidigen Herrn in Vergessenheit geraten zu lassen, und sie wünschte nun, Janet hätte seinen Namen nicht erwähnt. Schließlich war es ja nicht nötig, dass sie sich auch noch seinetwegen Sorgen machen musste.
“Ja, ja, aber ich werde doch nicht weit entfernt sein.”
“Darf ich etwas fragen, Miss Lydia?”
“Sofern ich die Antwort weiß, gern.”
“Werden Eure Mutter, Miss Annabelle und Master John mit Euch zu Sir Thomas-Smith ziehen?”
“Da bin ich mir nicht sicher. Der Earl hat gesagt, Mutter könne hier wohnen bleiben, wenn sie möchte. Es ist noch nichts entschieden.”
Durch Freddies unvermutete Rückkehr war die Zukunft noch ungewisser geworden als zuvor – bis auf die bevorstehende Hochzeit. Lydia war an einen Mann gebunden, den sie nicht liebte, ja, den sie nicht einmal ausstehen konnte, und es gab dennoch kein Entrinnen für sie. Ein Mann konnte einer unangenehmen Situation einfach entfliehen, so wie es Freddie und Ralph Latimer getan hatten, und dennoch hielten alle sie nach wie vor für feine Kerle. Aber so war eben das Leben.
“Hast du Angst um deine Stellung, Janet?”
“Ja, um die Wahrheit zu sagen. Wie Ihr wisst, bin ich hier im Hause, seit Ihr ein winziges Ding wart, und ich kann mir nicht vorstellen, jemals wieder irgendwo anders zu arbeiten.”
“Mache dir keine Sorgen, Janet. Wenn Mutter hier bleibt, wird sie dich bestimmt behalten. Und wenn sie mit zu Sir Thomas-Smith kommt, dann werde ich meinen künftigen Gemahl bitten, dass er dich übernimmt. Glaubst du wirklich, wir könnten so undankbar sein und dich einfach auf die Straße setzen? Nun denk nicht mehr daran, sondern hilf mir lieber, mich für das Frühstück umzukleiden.”
Vorsichtig schlich Lydia, gefolgt von dem Mädchen, in ihr Zimmer, wo sie mit Janets Hilfe die Sachen ihres Bruders ablegte und wieder in ihre eigenen Kleider schlüpfte. Sie war völlig erschöpft, nicht nur aus Mangel an Schlaf, sondern auch wegen der aufregenden Ereignisse der vergangenen Nacht. Ach, wenn sie doch nie auf den Gedanken gekommen wäre, die Schmuggler zu beobachten! Aber vielleicht säße dann Freddie schon im Gefängnis, und es wäre Ralph Latimer gewesen, der ihn dorthin gebracht hätte.
Janet holte ihr dann noch aus der Küche eine Tasse Kaffee, um ihre Lebensgeister wieder ein wenig zu wecken und etwas Farbe in ihre Wangen zurückzubringen. Doch die scharfen Augen der Mutter entdeckten dennoch Lydias ungewöhnliche Blässe und ihre Teilnahmslosigkeit, als sie miteinander am Frühstückstisch saßen. “Du siehst ja schrecklich aus, Kind! Bist du etwa krank?”
“Nein, Mama, nur müde. Das ist alles.”
“Hast du nicht gut geschlafen?”
“Ich konnte einfach nicht. Es gibt noch so viel zu überdenken. Ich
Weitere Kostenlose Bücher