Ballnacht in Colston Hall
als der Bruder? Großer Gott, wenn sie nur niemals gezwungen wäre, sich zwischen den beiden zu entscheiden! Sie liebte sie doch beide. Ja, trotz aller selbst gewählten Täuschungen musste sie zumindest sich selbst gegenüber endlich ehrlich sein.
“Sollten wir Caroline Brotherton nicht noch einen Besuch abstatten?” Annabelle riss sie mit dieser Frage aus ihren Gedanken, während die Schwestern zahlreiche Päckchen in der Kutsche verstauten. “Ich muss ihr unbedingt von unserer Reise nach London berichten. Sie fährt doch selbst auch dorthin. Vielleicht können wir sie in der Stadt aufsuchen, oder sie kommt mit ihrer Mutter zu Susan, falls es ihr recht ist.”
“Nun gut, aber wir dürfen nicht lange bleiben. Mama erwartet uns zum Abendessen daheim.”
Zu ihrer Bestürzung merkte Lydia jedoch zu spät, dass Lady Brotherton ausgerechnet heute ihren Jour fixe hatte und die Hälfte des Adels der Region, einschließlich Peregrine Baverstock, bei ihr versammelt war. Sobald die Schwestern die Hausherrin begrüßt hatten, eilte Perry zu ihnen. Ohne die elterliche Aufsicht fühlte er sich offensichtlich selbstbewusster. Er plauderte über den Ball in Colston Hall, über Annabelles wunderhübsches Kleid und über seine Reise nach London am kommenden Tag. Annabelle war völlig hingerissen und strahlte ihn ein wenig einfältig an.
Lydia missfiel dieses Zusammentreffen. Schließlich sollte ihre eigene Reise ja auch dazu dienen, Annabelle und Perry für eine Weile zu trennen. Doch als sie zu Hause angelangt waren, hatte sie die Angelegenheit vergessen und unterließ es demzufolge, der Mutter davon zu berichten.
“Es ist ein Brief für Euch abgegeben worden, Miss Lydia”, sagte Janet und holte einen rechteckigen Umschlag aus ihrer Schürzentasche. “Ein Junge hat ihn gebracht.”
“Ein Junge?”
“Ja. Ich glaube, es war einer von denen aus dem Dorf, die in Sir Arthurs Garten arbeiten. Ein frecher kleiner Kerl.”
“So, bei Sir Arthur”, murmelte Lydia, überrascht von diesem seltsamen Boten. Aber vielleicht war der Junge gerade auf dem Heimweg gewesen und dabei Freddie in die Arme gelaufen, der ihn für eine rasche und bequeme Art der Briefbeförderung benutzt hatte. Schnell ging sie in ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und brach mit zitternden Fingern das Siegel.
“Komm heute Abend, sobald es dunkel geworden ist, zu der Hütte im Wald. Ich werde eine Stunde auf Dich warten. Und vergiss Dein Versprechen nicht, unser Geheimnis zu wahren.” Das Schreiben war nur mit einem verschnörkelten F unterzeichnet.
Lydia ließ die Hand mit dem Briefblatt sinken. Wie unverfroren von Freddie, einen von Sir Arthurs Leuten als Boten zu ihr zu schicken! Aber woher wusste er von ihrer Verbindung zu Sir Arthur? War es vielleicht nur ein Zufall? Oder gehörte der Junge zu den Schmugglern? Nun, wie auch immer, jetzt hieß es vor allem, rechtzeitig aus dem Haus zu kommen, ohne dass die Mutter etwas davon merkte.
Da es bereits Ende Mai war, begann es erst ziemlich spät zu dunkeln, und zu diesem Zeitpunkt war John bereits im Bett, und die Mutter, die mit einer Näharbeit beschäftigt war, gähnte immer häufiger. “Ich glaube, die Vorbereitungen für den Ball haben mich doch mehr angestrengt, als ich vorher angenommen hatte”, sagte sie, während sie sich wieder einmal verstohlen die Hand vor den Mund hielt. “Und nun auch noch …”
“Gehe doch schlafen, Mama.” Lydia blickte von dem Buch auf, das sie zu lesen vorgab, und nickte der Mutter lächelnd zu. “Ich werde nachsehen, ob alle Türen richtig verschlossen sind.”
“Ach ja, das werde ich tun.” Die Mutter legte die Näharbeit in ein rundes Körbchen, erhob sich und verabschiedete sich von ihren Töchtern mit einem zärtlichen Kuss auf die Wange. “Bleibt aber nicht zu lange auf, Kinder.”
Kaum waren ihre Schritte im Gang verklungen, erklärte Annabelle entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, ebenfalls müde zu sein und sich zurückziehen zu wollen. Lydia war froh über diesen Gang der Dinge. Sie lauschte noch eine Weile auf die Geräusche im Haus, hörte, wie sich auch Janet in ihre Bodenkammer begab, und eilte dann in Freddies Zimmer, um sich für ihren nächtlichen Gang anzukleiden.
Kaum zehn Minuten später hastete sie schon über den Weg zu dem Wald von Colston, während sie noch ihre Locken unter den Hut des Bruders stopfte. Als sie das Dickicht erreicht hatte, spähte sie eingehend in das Dunkel, um sicherzugehen, dass nicht vielleicht die hohe
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