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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Nichols
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Gestalt des Earl of Blackwater irgendwo zwischen den Bäumen verborgen war. Aber alles war reglos und still mit Ausnahme einer leichten Brise, die die Blätter der alten Eichen bewegte, und einem schnüffelnden Geräusch, das von Kaninchen herrühren mochte oder auch von einem Dachs.
    Vorsichtig schlich Lydia weiter und war sorgfältig darauf bedacht, nicht auf einen dürren Zweig oder einen vertrockneten Tannenzapfen zu treten, um sich nicht durch das Knacken zu verraten. Endlich erblickte sie in der Ferne einen Lichtschimmer, und schon bald hob sich der Umriss der alten Hütte gegen den Nachthimmel ab. Tief aufatmend blieb Lydia am Rande der Lichtung stehen und ging dann mit festen Schritten auf das halb verfallene Häuschen zu. Wer immer auch darin sein mochte, sollte nicht den Eindruck erhalten, dass sie sich vor ihm fürchtete. Doch als die Tür geöffnet wurde und ein Mann auf die Schwelle trat, trug dieser unverkennbar Freddies vertraute Züge.
    Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich manchmal gefragt, ob die Begegnung mit dem Bruder vor zwei Tagen nicht vielleicht doch nur ein Wunschtraum gewesen war. Aber nun stand er doch wieder leibhaftig vor ihr, in seiner ganzen Größe und mit dem ein wenig schiefen Lächeln, das sie in ihrer Kindheit begleitet hatte. Freudestrahlend rannte sie auf ihn zu und warf sich ihm an die Brust. “Oh, Freddie, wie schön, dich zu sehen. Ich hatte schon gefürchtet, dass du nur ein Geist gewesen bist.”
    “Nun, ich glaube, ich habe nicht das Geringste von einem Geist an mir, Lydia.” Freddie zog sie in die Hütte, wo ein winziger Kerzenstummel ein wenig Licht verbreitete. “Komm her, ich will dich genauer ansehen.” Er schob die Schwester mit ausgestreckten Armen ein wenig von sich. “Du liebe Güte, wie du gewachsen bist! Und alles sitzt an der richtigen Stelle. Meine kleine Schwester ist ja eine wahre Schönheit geworden.”
    “Lass doch den Unsinn, Freddie, und erzähle mir lieber, wo du all die Jahre gewesen bist. Wir haben doch nur einen einzigen Brief von dir bekommen, kurz nachdem du fortgegangen bist, und in dem hast du uns mitgeteilt, dass du dich hast anwerben lassen. Mama war so unglücklich, dass du nie etwas von dir hören ließest – und wir anderen waren natürlich auch traurig. Warum hast du denn gar nicht geschrieben?”
    Freddie wandte sich ruckartig um und starrte auf die vermoderte Wand, so als wolle er Lydia nicht zeigen, wie tief die Wunde immer noch war, die man ihm damals zugefügt hatte. “Man hatte mich weggeschickt, Lydia, weggeschickt wie einen gemeinen Verbrecher. Selbst Mama hatte sich von mir abgewandt und dem Earl nicht widersprochen, als er mit dieser Forderung zu ihr kam.”
    “Ich glaube, sie hielt es auch für besser, als dich im Gefängnis zu wissen wegen eines verbotenen Duells.”
    “Aber das Duell hat doch nie stattgefunden, und das hätte ich dem Gerichtshof auch beweisen können. Es wäre mir jedenfalls lieber gewesen als alles, was danach kam.”
    “Was geschah denn danach?”
    “Ach, ich kann dir auch nicht die Hälfte davon erzählen. Da ich kein Geld hatte, konnte ich nur als einfacher Soldat in die Armee eintreten, und so ein Leben ist unbeschreiblich hart – schwere körperliche Arbeit, wenig zu essen, das meiste davon ungenießbar, und als Krönung des Ganzen die Aussicht, irgendwann einmal von einer Kugel getroffen zu werden. Ein Jahr später wurde ich nach Kanada geschickt, und die Zustände an Bord des Truppentransporters waren beinahe noch schlimmer. Als wir schließlich in der neuen Welt an Land gingen, mussten wir feststellen, dass wir nicht nur gegen die Franzosen kämpfen sollten, sondern auch gegen die wilden Eingeborenen, die unsere Skalps als Kriegstrophäe zu benutzen pflegten.”
    “Armer Freddie.” Lydia tätschelte seine Hand. “Aber jetzt bist du ja wieder daheim und kein Soldat mehr.” Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. “Du gehörst doch nicht mehr zur Armee, nicht wahr?”
    Der Bruder zog eine Grimasse. “Willst du vielleicht wissen, ob ich desertiert bin?”
    “Nein, denn das wäre mir gleichgültig. Es sei denn, sie wären deswegen hinter dir her.”
    “Niemand kann hinter mir her sein, weil ich der Kavallerist Frederick Brown war. Und jener Kavallerist Brown geriet in französische Gefangenschaft. Nie wieder kam ein Lebenszeichen von ihm. Wahrscheinlich ist er längst tot.”
    “Du bist geflohen?”
    “So kann man es auch nennen. Lass mich sagen, die Franzosen wurden überredet,

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