Ballnacht in Colston Hall
will, dass du ihn überredest, hierher zu kommen. Sage ihm, du hast die Schmuggler gesehen. Sage ihm, was du willst, aber bringe ihn hierher. Ich werde hier auf ihn warten.”
“Was willst du tun?”
“Das brauchst du nicht zu wissen. Als ich dir zum letzten Mal ein Geheimnis anvertraut habe, hast du es Papa gesagt.”
“Ich konnte doch nichts dafür. Er hat mich dabei ertappt, wie ich aus dem Haus ging, um dir zu folgen.”
“Aber ich hatte dich ins Bett geschickt. Warum, ach, warum, Lydia, hast du nicht getan, worum ich dich gebeten hatte?”
“Ich musste dich doch aufhalten, denn ich wusste, dass du ein Duell ausfechten wolltest, und hatte Angst, dass einer von euch beiden dabei getötet würde. Als Papa mir nicht erlaubte, allein in den Wald zu gehen, musste ich ihm doch sagen, worum es ging. Irgendjemand musste euch Einhalt gebieten.”
Das flackernde Licht der kleinen Kerze enthüllte die Zeichen von Kummer und Verletztheit auf Freddies Gesicht, aber auch einen leichten Hauch von Humor. “Das hat er dann ja auch getan und hat teuer dafür bezahlt. Wir alle haben teuer dafür bezahlt.”
“Es war ein Unfall, Freddie. Das musst du endlich einsehen.”
“Nun, dann werde ich eben einen weiteren kleinen Unfall in Szene setzen.”
“Nein, Freddie, nein! Das darfst du nicht. Das darfst du wirklich nicht. Wenn dem Earl etwas zustößt, kannst du nie wieder nach Hause zurück. Wir verlieren dich dann für immer. Bitte, bitte, ich flehe dich an …”
“Lydia, solange er hier ist, solange er der Grundherr von Colston ist, kann ich ohnehin nicht zurückkommen, siehst du das nicht? Der Ort ist nicht groß genug für uns beide.”
“Na, dann gehe doch irgendwo anders hin und lebe dort”, versetzte Lydia ärgerlich, bereute es aber sofort und fügte versöhnlich hinzu: “Du könntest ganz in unserer Nähe wohnen, wo wir dich hin und wieder besuchen würden …”
“Damit er dann die ganze Zeit über mich lachen kann.”
“Ich bin sicher, dass er nicht über dich lachen wird. Sprich mit ihm. Höre dir seine Erklärung an. Versucht doch, einander zu verstehen.”
Ein zögerliches Lächeln erhellte Freddies Miene. Er nahm Lydias Hand in seine beiden Hände, strich zärtlich mit den Daumen darüber und zog sie dann an die Lippen. “Liebe Lydia. Immer noch die Friedensstifterin. Du erschienst schon als Kind immer im rechten Augenblick, um Ralph und mich wieder zu versöhnen, wenn wir uns gestritten hatten.”
“Dann lasse es mich doch jetzt auch wieder tun.”
Der Bruder seufzte. “Warum verteidigst du ihn nur?”
Darauf konnte Lydia ihm keine Antwort geben. Kein Wort hätte sie dazu über die Lippen gebracht, obwohl ihr Herz den Grund ganz genau kannte: weil sie Ralph liebte und weil sie nun wusste, dass er ein Mensch ohne jede Bosheit war. Jahrelang hatte sie sich bemüht, Ralph Latimer zu hassen, ohne dass es einen Grund dafür gab. Nun aber hatte sie endlich seinen warmherzigen, rechtschaffenen Charakter entdeckt. “Es geht mir nicht darum, ihn zu verteidigen, Freddie, sondern mein Wunsch ist, unsere Familie vor neuem Herzeleid zu bewahren.”
“Dann sage ihm, dass ich ihn hier treffen möchte – morgen Abend.”
“Ich glaube nicht, dass er kommt.”
“Er wird kommen, wenn du sagst, dass er die Schmuggler fangen kann. Aber nun musst du wieder nach Hause gehen.” Sacht strich er mit dem Fingerrücken über ihre Wange. “Gehe auf dem kürzesten Weg zurück, Lydia, und meide in den nächsten zwei Tagen den Wald und seine Umgebung.”
Lydia drückte ihm wortlos die Hand und machte sich wie im Traum auf den Heimweg. Freddie war wieder daheim. Aber was für ein veränderter Freddie. Hatte sie tatsächlich erwartet, er werde so zurückkommen, wie er gegangen war, mit seiner knabenhaften Gestalt, seinem wirren Blondhaar, seinem verschmitzten Lächeln? Wie töricht von ihr!
Sollte sie wirklich tun, was der Bruder verlangte? Durfte sie Ralph zu einem Treffen überreden, dessen Ergebnis so unsicher war? Sie wollte nicht, dass er verletzt oder gedemütigt würde, denn sie liebte ihn. Sie liebte aber auch Freddie. Wenn es zwischen den beiden zu einem Zweikampf kommen sollte, so würde sich die inzwischen Geschichte gewordene Vergangenheit wiederholen. Aber diesmal hatte der Bruder Komplizen und den Vorteil der Überraschung. Nein, nein, das durfte nicht geschehen! Sie konnte es nicht zulassen.
9. KAPITEL
Als Lydia am anderen Morgen erwachte, stand ihr Entschluss unumstößlich fest. Sie
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