Ballnacht in Colston Hall
mich laufen zu lassen.”
“Von wem?”
“Das spielt keine Rolle. Ich musste als Gegenleistung nur auch etwas für sie tun.”
“Etwa spionieren? Oh, Freddie, du wirst dich doch nicht etwa dazu hergegeben haben!”
“Nein, natürlich nicht.” Freddie schüttelte ärgerlich den Kopf. “Eine bestimmte Person wollte, dass ich Konterbande nach England bringe, und am Schmuggel beteiligt sich hier doch fast jeder. Es schien mir eine gute Gelegenheit zu sein, nach Hause zu kommen. Und endlich wieder daheim zu sein, war alles, was ich mir wünschte.”
“Ich bin ja auch so glücklich, dass du wieder hier bist. Aber warum immer noch diese Geheimnistuerei? Du hast die Waren an Land gebracht wie versprochen. Was hindert dich daran, endlich wieder in den Kreis deiner Familie zurückzukehren?”
“Das ist nicht so einfach, wie du denkst. Zum einen bin ich für meine Dienste noch nicht bezahlt worden, und dann ist da noch die Angelegenheit mit Ralph Latimer …”
“Kannst du sie nicht vergessen? Er kann dir doch jetzt nichts mehr zuleide tun.”
“Er hat riesige Schulden bei mir. Er schuldet mir zehn Jahre meines Lebens.”
“Aber es ist doch unmöglich, diese Schuld zurückzuzahlen.”
“Das ist richtig. Deshalb will ich, dass er sich vor mir dreht und windet vor Bedrängnis und Verlegenheit. Er hat den Titel seines Vaters geerbt und auch sein Vermögen …”
“Sein Vermögen? Der alte Earl ist völlig verarmt gestorben. Alles, was Ralph besitzt, hat er aus Indien mitgebracht.”
“Aus Indien? Ist er dort gewesen?”
“Soviel ich weiß.”
“Aha. Und während er dort Reichtümer gesammelt hat, mussten Mama und die anderen alle Not leiden. Ja, ihr wurdet sogar so weit gedemütigt, dass ihr die Mildtätigkeit des alten Earls dankbar entgegengenommen habt.”
“Ja”, räumte Lydia widerwillig ein, denn sie wollte Freddies Zorn und Rachegelüste durch diese Mitteilung nicht noch mehr anstacheln, obwohl sie seine Gefühle nur zu gut verstehen konnte. Bis vor Kurzem hätte sie noch genauso gedacht. Aber jetzt … Ach, alles war inzwischen ganz anders geworden. Die Heimkehr des Bruders hatte sie so glücklich gemacht, dass sie gegenüber jedermann gnädig gestimmt war, auch gegenüber dem Earl of Blackwater. “Aber es ist uns nicht wirklich schlecht gegangen. Und wenn wir gewusst hätten, wo du bist und wie es dir geht, wären wir sogar vollkommen zufrieden gewesen.”
“Nun, jetzt bin ich wieder daheim, und in ein paar Tagen werde ich meinen Platz als Oberhaupt der Familie einnehmen. Dann kannst du deinen Kopf wieder hoch tragen.”
“Wir waren immer in der Lage, unseren Kopf hoch zu tragen, Freddie”, erwiderte Lydia ruhig.
“Ich will aber auch erhobenen Hauptes zurückkehren, und das bedeutet, dass ich mit vollen Taschen komme und nicht herabgewürdigt durch jenen Mann aus Colston Hall.”
Bei diesen Worten musste Lydia unwillkürlich lächeln, denn bis vor ein paar Tagen hatte sie den jungen Earl zum Missfallen der Mutter ebenso tituliert. “Er ist nicht so schlimm, Freddie. Und wir müssen doch als gute Nachbarn miteinander leben. Zumindest bis …”
“Bis wann?”
“Bis zu meiner Hochzeit. Freddie, du bist gerade zum rechten Zeitpunkt gekommen, um an der Feier teilnehmen zu können.”
“Und wer ist der Auserwählte?”
“Du wirst ihn nicht kennen, denn er ist erst im vorigen Jahr hierhergekommen. Er ist Witwer, aber er ist sehr reich. Sein Name ist Sir Arthur Thomas-Smith.”
Freddie stieß einen zischenden Laut aus, bevor er erwiderte: “Und wann wurde der Ehevertrag mit ihm abgeschlossen?”
“Im vorigen Monat. Es ging alles so schnell, weil wir fürchteten, dass wir den Witwensitz verlassen müssten, als Ralph Latimer das Erbe seines Vaters antrat. Aber …”
“Geht diese Heirat etwa auch auf das Konto des Grundherren von Colston?”
“Nein, nein, Freddie, keineswegs”, versicherte Lydia hastig, denn der ärgerliche Ton des Bruders beunruhigte sie sehr, und sie wollte ihm keinen weiteren Grund für seine Rachepläne geben. “Es ist eine sehr günstige Verbindung, und Sir Arthur ist sehr großzügig.”
“Das sollte er auch sein.”
“Wie meinst du das?” Lydia konnte mit dieser rätselhaften Antwort nichts anfangen.
“Du bist wertvoller als ein Diamant, und ich werde dafür sorgen, dass er das begreift. Was aber Ralph Latimer betrifft, so habe ich auch für ihn etwas in petto.” Der Bruder packte sie so heftig am Oberarm, dass sie leise aufschrie. “Ich
Weitere Kostenlose Bücher