Ballnacht in Colston Hall
würde den Auftrag des Bruders, Ralph zu einem Treffen zu überreden, das ihm vielleicht den Tod brachte, nicht erfüllen. Zwar glaubte sie nicht, dass Freddie mehr vorhatte, als ihn zu demütigen und ihm vielleicht auch noch eine blutige Nase zu verschaffen. Doch sie hegte berechtigte Zweifel, dass die anderen Männer ebenso gnädig mit dem Earl verfahren würden. Wenn sie einfach tatenlos abwartete, wäre Freddie wahrscheinlich sehr ärgerlich. Aber irgendwann würde er sich bestimmt wieder beruhigen. Wie jedoch sollte sie verhindern, dass Ralph Latimer weiterhin des Nachts umherstreifte, um den Schmugglern aufzulauern?
Sie musste eine Möglichkeit finden, ihn über längere Zeit zu beschäftigen, damit er nicht außer Haus gehen konnte. Aber wie nur? Die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen, ohne den Bruder hineinzuziehen, und Ralph mit einem Gespräch über Gott und die Welt aufzuhalten, würde ihr wohl kaum gelingen. Alles, was sie einander zu sagen hatten, war am Abend zuvor ausgesprochen worden, und was es darüber hinaus noch zu bereden gab, würde den Kummer in ihrem Herzen nur noch vergrößern. Vielleicht ließe sich irgendein gesellschaftliches Ereignis improvisieren, zu dem er eine Einladung erhalten könnte? Aber wer garantierte ihr, dass er sie auch wahrnehmen würde? Oder ein anderer kurzfristiger Anlass? Konnte sie ihn nicht zu einer Jagd auf Wildgänse irgendwohin schicken? Nach Burnham vielleicht oder nach Chelmsford? Ach, was nur, was?
Sollte sie nicht doch mit der Mutter darüber reden? Aber nein, das ging ja nicht. Sie hatte Freddie doch versprochen, zu niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu sagen. Gegebenenfalls könnte sie nach Burnham gehen und den Steuereinnehmern einen Wink geben. Das würde aber bedeuten, dass nicht nur alle Schmuggler, sondern auch Freddie in die Falle gehen würde. Robert Dent! Unvermittelt kam Lydia dieser Name in den Sinn. Er war mit beiden Männern befreundet gewesen und hatte auch jetzt noch freundschaftlichen Umgang mit Ralph Latimer, und wenngleich er offenkundig Kontakt zu den Schmugglern hatte, war er doch kein gewalttätiger Mensch. Sie sprang aus dem Bett, trank die Schokolade, die Janet ihr auf den Nachttisch gestellt hatte, wusch sich rasch, warf das rosa Musselinkleid über und eilte in das untere Stockwerk. Die Mutter war in der Küche und besprach mit der Köchin und Janet die Speisenfolge für den heutigen Tag.
“Mama, ich habe gestern beim Einkauf in Chelmsford gelbes Band vergessen. Könnte mich Partridge wohl heute noch einmal hinfahren?”, bat Lydia aufgeregt.
“Ach, Kind, du kannst das Band doch auch in London kaufen, und dort wird es zudem viel mehr Auswahl geben.”
“Ich brauche es aber für mein Reisekleid und den dazu gehörigen Hut, Mama. Ich werde mich auch sehr beeilen.”
Die Mutter lächelte nachsichtig. “Nun gut, dann fahre.”
Als Lydia aus dem Stall zurückkehrte, wo sie Partridge beauftragt hatte, die Pferde einzuspannen, fand sie Annabelle mit Hut und Umhang in der Halle vor. “Ich komme mit”, erklärte sie der Schwester rundheraus.
“Warum denn?” Lydia runzelte ärgerlich die Stirn. “Ich hole doch nur etwas Band. Es wird sehr langweilig für dich werden.”
“Hier ist es noch langweiliger.”
“Braucht Mama denn nicht deine Hilfe?”
“Nein, ich habe sie ausdrücklich gefragt. Lydia, ich habe fast den Eindruck, als willst du nicht, dass ich dich begleite.”
“Unsinn. Ich habe dabei nur an dich gedacht.”
“Nun, dann ist ja alles in bester Ordnung.” Annabelle ergriff ein umfangreiches Bündel, das zu ihren Füßen lag. “Ich will Caroline das fliederfarbene Kleid zeigen, das wir gestern gekauft haben.”
“Das hättest du auch gestern tun können, als wir den Besuch bei ihr gemacht haben.”
“Ich weiß. Ich habe es einfach vergessen.”
Lydia war zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um über das merkwürdige Verhalten der Schwester nachzudenken, und so machten sich die beiden auf den Weg nach Chelmsford. Annabelle plauderte vergnügt, während Lydia angestrengt darüber nachdachte, wie sie, ohne Verdacht zu erregen, allein mit Robert Dent zusammentreffen könnte.
“Ich denke, es wird uns viel Zeit sparen, wenn du zu Caroline gehst, während ich das Band einkaufe”, schlug sie schließlich vor, als sie in das Städtchen einfuhren. “Partridge könnte uns am Gasthof zum Goldenen Adler absetzen, wo er mit seinem Bruder einen Krug Bier leeren kann, während wir unsere
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