Balthazar: Roman (German Edition)
mal vor, es wäre ein lebendiger Mensch gewesen, dann hättest du von ihm trinken können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.«
»Deine und meine Vorstellung von einem Gewissen sind sehr unterschiedlich.«
Ihr Gesichtsausdruck verdunkelte sich. »Ja, das stimmt allerdings.«
Balthazar stieg aus. Seine Beine versanken beinahe bis zu den Knien in dem dunklen, pulvrigen Schnee. Die Finsternis um ihn herum war fast undurchdringlich, und mittlerweile war kaum noch jemand sonst dumm genug, sich auf die Straße zu wagen. Er und Charity waren allein. Ihr weißes Kleid und ihr blondes Haar ließen sie beinahe mit dem Schneesturm, der rings um sie herum tobte, verschmelzen.
»Du bist zu Redgrave zurückgegangen«, sagte er. »Ich hatte gedacht, du hättest deinen eigenen Clan.«
»Das habe ich auch. Er hat mich begleitet. Seine erste Liebe vergisst man nie, richtig?«
Wieder wurde Balthazar an die Scheune erinnert, in der er seinen letzten Atemzug als lebender junger Mann getan hatte, und er sah vor seinem inneren Auge, wie der Boden mit Blut besudelt gewesen war, als er Charity schließlich umgebracht hatte. Es gab keine einzige Erinnerung in seiner gesamten Zeit auf Erden, die ihn mit größerem Entsetzen erfüllte als der Anblick Charitys, die durch seine eigene Hand gestorben war und neben seiner ersten großen Liebe lag. Neben der Frau, die er zu retten versucht hatte, indem er seine Schwester opferte. Er hatte es versucht und hatte versagt.
Auch Charity dachte daran. Ihre hohe, junge Stimme bebte, als wäre ihr kalt. »Warum wählst du nie mich? Warum bin nie ich diejenige, die du retten willst?«
»Warum entscheidest du dich immer dafür, zu Redgrave zurückzukehren? Wie kannst du dich auf seine Seite schlagen, nach allem, was er uns beiden angetan hat?«
»Redgrave hat nur dich getötet.« Charity spuckte die Worte förmlich aus. » Du warst derjenige, der mich umgebracht hat!«
Sie hatten dieses Gespräch schon früher geführt – schon Hunderte von Malen in Hunderten von Jahren. Dies war für Balthazar das Stichwort zu erwidern, dass er keine Wahl gehabt hatte. Sie wusste doch, wie es gewesen war, und dass sie ohnehin auf die eine oder andere Weise noch vor dem Ende der damaligen Nacht tot gewesen wäre. Hätte sie denn lieber an der Stelle der armen Jane sein wollen?
Aber dieses Mal war es anders, denn er war zuvor noch einmal an den Ort des Geschehens zurückgekehrt. Er hatte alles noch einmal durchlebt, und zwar genauso lebendig und unmittelbar wie damals, als es geschah. Und nun hatte Balthazar endlich begriffen.
Charity fragte ihn nicht, warum er es nicht irgendwie geschafft hatte, sie alle aus Redgraves Klauen zu befreien. Sie fragte ihn, warum er nicht ihr die Gnade erwiesen hatte, sie sterben zu lassen.
Jane hatte eine Chance , hatte er sich immer gesagt. Charity nicht . Charitys Geist und Seele waren bereits geschädigt gewesen.
Doch genau das war der Grund, warum er sie hätte töten sollen. Wäre Jane Vampir geworden, dann wäre sie vielleicht eine Mörderin wie Redgrave geworden, denn die Verwandlung veränderte die Menschen in jeder denkbaren Art und Weise. Vielleicht hätte sie sich aber auch wie Balthazar und die anderen Vampire in Evernight entwickelt und wäre geistig gesund und vernünftig geblieben. Auf jeden Fall hätte sie ihre eigene Wahl treffen können.
Aber indem er Charity in ein Vampirgirl verwandelt hatte, hatte Balthazar dafür gesorgt, dass sie für alle Zeit im Labyrinth ihres eigenen Wahnsinns gefangen bleiben würde.
Balthazar sagte: »Es tut mir leid.«
»Das sagst du immer.«
Er ließ sich im Schnee auf die Knie sinken und sah zu ihr hoch. Diese Geste schaffte, was keines seiner Worte je vermocht hatte: Sie brachte Charity dazu, ihm zuzuhören.
Und so begann er: »Charity, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, dann würde ich alles ganz anders machen. Wenn Redgrave mich noch einmal wählen lassen würde, wer von euch beiden verwandelt werden soll, dann würde ich selber zu dir kommen und dir mit eigenen Händen den Hals umdrehen. Ich würde dich zu Mom und Dad gehen lassen. Ich würde dafür sorgen, dass alles vorbei ist. Ich würde dich befreien. Stattdessen muss ich jeden einzelnen Tag mit dem leben, was ich dir angetan habe, und auch wenn du das nicht siehst, so schwöre ich bei Gott, dass das genauso schlimm ist wie das Schicksal, das ich dir beschert habe.«
Charity wurde nur noch zorniger. »Aber du kannst nicht zurückkehren. Es nützt nichts, sich
Weitere Kostenlose Bücher