Balthazar: Roman (German Edition)
Korsett zu verzichten; nur der dünne Stoff trennte seine Haut von ihrem Fleisch.
Sie flüsterte. »Du hasst mich.«
»Ich hasse Redgrave. Dich … dich vermisse ich hin und wieder.«
Eine Lüge, in der ein Körnchen Wahrheit lag. Er hasste sein gelegentliches Verlangen nach ihr; das bedeutete jedoch nicht, dass es nicht noch immer ein Teil von ihm war.
»Du würdest nicht wollen, dass wir auf die gleiche Art und Weise jagen.«
»Es gibt andere Wege, an Nahrung zu kommen, Constantia. Wege, die es uns erlauben, beinahe ganz normal zu leben.«
»Seit wann ist es uns denn wichtig, normal zu sein?«
»Es kann dir doch nicht gefallen, so wie jetzt existieren zu müssen«, beharrte Balthazar. »Immer am Rande der Gesellschaft zu sein. Immer im Dunkeln. Immer auf dem Sprung, so wie Redgrave es befiehlt. Du musst die Kontrolle zurückerobern, Constantia.«
Er beugte sich näher zu ihr, so nahe, dass sich ihre Lippen beinahe berührten. Heiser flüsterte er: »Verführ mich.«
Es ließ sich unmöglich sagen, wer wen zuerst geküsst hatte oder wo die Lügen aufhörten und die Wahrheit begann. Einige Augenblicke lang wusste Balthazar nur, dass Constantia ihm wohlvertraut war und dass er sogar in einem Moment wie diesem ihre dunkle Schönheit bewunderte. Er dachte daran, wie gut es sich damals angefühlt hatte, Nacht für Nacht seine Seele in ihr zu versenken.
Aber als er sie rückwärts zur Treppe schob, erinnerte sich Balthazar daran: Ich werde sie gleich töten.
Sein Gewissen quälte ihn; allerdings war das nichts gegen den Wunsch, endlich seine Schwester zu retten. Er konnte es nun doch noch schaffen und sie beide befreien. Constantia hatte damals dabei geholfen, sie beide zu Gefangenen zu machen; nun würde sie den Preis dafür bezahlen müssen.
Sie stolperten ins Schlafzimmer und fielen gemeinsam aufs Bett. Balthazar nahm Constantias Gesicht in seine Hände und küsste sie tief und leidenschaftlich, während er die Augen aufschlug, um nach dem Nachttischchen auf der rechten Seite Ausschau zu halten. Dort hatte Charity die Pflöcke hinterlegen wollen. Sobald er Constantia gepfählt und sie auf diese Weise bewegungsunfähig gemacht hätte, würde er das Haus niederbrennen.
Er stieß sie zurück; nicht grob, aber es war ein altvertrautes Signal, und er rechnete damit, dass sie es wiedererkennen würde. Tatsächlich begann Constantia, aus ihrem taubengrauen Kleid zu schlüpfen und kehlig zu lachen. Ihr makelloser Körper erregte ihn noch immer. »Du hast in diesen letzten paar Jahrhunderten keine neuen Tricks gelernt, was?« Sie grinste Balthazar an, während sie über das Bett rutschte, um sich leichter ausziehen zu können. »Ich sehe, ich muss dir noch eine Menge beibringen.«
»Ich bin bereit dazuzulernen.« Balthazar zog sein Hemd aus, und diese Bewegung bot ihm die nötige Ablenkung, während er mit einem Ruck die Nachttischschublade aufzog.
Im Innern lag … nichts.
Als er den Blick hob, sah er Constantia regungslos auf der anderen Seite des Bettes sitzen. Dort war die Schublade des Tischchens ebenfalls aufgezogen. Und zweifellos hatte sie eben dort den Pflock vorgefunden, den sie nun in der Hand hielt.
Ihre Augen waren beinahe traurig. »Weißt du, dass ich gehofft hatte, Charity würde lügen?«
Sie hat mich verraten , dachte Balthazar in dem Sekundenbruchteil, ehe ihm der Pflock in die Brust gerammt wurde.
Ihn umfing eine Schwärze, die er nicht richtig sehen konnte, und eine Stille, die er nicht hören konnte. Balthazar wusste nur, dass er nicht tot war, sonst wusste er gar nichts. Bisweilen übermittelten seine betäubten Sinne ihm Botschaften: Charity, die triumphierend und stolz über ihm stand, oder den Geruch von brennendem Holz. Aber sein Geist konnte die Informationen nicht verarbeiten. Sie glitten in seine Gedanken hinein und verloren sich dann wieder, ohne dass er sie hätte greifen oder sich an sie erinnern können.
Bis zu dem Moment, als ein großes Gewicht auf ihn stürzte und den Pflock verschob.
Balthazar schrie. Das Holzstück, das noch tiefer in seine Brust getrieben worden war, steckte nun nicht mehr in seinem Herzen, und ihn überfiel der volle Schmerz einer Stichwunde. Er sog scharf die Luft ein und bemerkte, wie seine Lunge sich mit Rauch füllte. Als seine Augen wieder etwas sehen konnten, begriff er, dass Charity seinen Plan bis ins letzte Detail ausgeführt hatte. Nur dass sie ihr Vorhaben gegen ihn und nicht gegen Constantia gerichtet hatte. Nun war er derjenige, der in
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