Balthazar: Roman (German Edition)
das Leben gekostet hatte. Danach hatten sich Mom und Dad noch tiefer in die Arbeit vergraben und sich kaum noch um ihr anderes Kind gekümmert. Vielleicht, weil es sie zu schmerzhaft an das erinnerte, was sie verloren hatten.
Skye sah nun klarer als je zuvor, dass Dakota nicht der Einzige gewesen war, der in jener Nacht gestorben war. Auch ihre Familie, wie sie sie gekannt hatte, gab es seitdem nicht mehr.
Leise sagte sie: »Dein Danach ist alles andere als leicht für den Rest von uns.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
Skye war sich nicht sicher, ob er sich entschuldigte, weil er so sorglos gewesen war, oder ob er ihr einfach nur mitteilen wollte, wie schrecklich er sich fühlte. Aber das spielte keine Rolle. Dakota war da und genauso an ihrer Seite, wie er es immer gewesen war. Das war genug.
Dann sagte er: »Du weißt, dass du hier nicht bleiben kannst.«
»Nicht hier bei dir?« Der Gedanke daran, ihren Bruder erneut zu verlieren, wo sie ihn doch gerade erst wiedergefunden hatte, erschien ihr entsetzlich falsch. »Ich will dich nicht verlassen.«
»Du kannst mich jederzeit wiederfinden, nun, da du weißt, wie«, sagte Dakota. »Du selbst bist der Weg, Skye. Das Tor zwischen den Welten. Du kannst immer mit mir sprechen. Du kannst mit jedem von uns sprechen. Und vertrau mir, es gibt eine Menge Leute hier, die für ihr Leben gern … Okay, vielleicht ist das nicht die beste Wortwahl. Sagen wir mal so: Eine Menge Leute hier sind bereit und warten.«
»Ich kann jetzt mit den Toten sprechen?«
»Mit den Toten, die was zu sagen haben. Und damit meine ich nicht so etwas wie in diesen bescheuerten TV -Sendungen, okay? Das hier ist ernst.«
»Soll ich den Leuten dabei helfen … sich besser zu fühlen? Mordfälle lösen und solche Sachen?« Nun, dann hätte sie auf jeden Fall was, wovon sie bei der Berufsberatung in der Schule erzählen konnte. »Wohin soll mich diese Gabe bringen?«
»Wo immer du hinwillst, Schwesterchen. Aber all das spielt keine Rolle mehr, wenn du jetzt endgültig herüberkommst.«
Wenn du jetzt erfrierst , wollte er sagen. Skye wurde sich plötzlich wieder ihres physischen Körpers bewusst, zwar immer noch sehr vage, aber sie spürte die gefährliche Taubheit, die sich ihrer Glieder bemächtigt hatte. »Versprichst du mir, dass ich dich wiederfinden werde?«
Dakota warf ihr dieses schiefe Grinsen zu, bei dem sie ihm immer am liebsten gegen die Schulter geboxt hätte. Doch sie lächelte zurück, als er sagte: »Oh, ab jetzt wirst du mich nicht mehr loswerden.«
Skye lachte. Es kam ihr vor, als sei sie von einem Ort der allergrößten Gefahr an einen Ort übergewechselt, an dem es keine Angst mehr gab. Wenn die einzige Gefahr der Tod war, dann war das am Ende gar keine Gefahr mehr. »Ich habe dich lieb, Dakota. Ich habe immer das Gefühl, dass ich dir das nicht häufig genug gesagt habe.«
»Ich habe dich auch lieb. Und ja … niemand sagt das oft genug. Das ist auf der ganzen Welt so. Aber ich wusste immer, wie sehr du an mir hängst. Außer vielleicht damals, als du mir mein Skateboard geklaut hast.« Sein Gesichtsausdruck war halb zärtlich, halb verzweifelt. »Wirst du dich jetzt selber retten?«
»Ja, das will ich. Auf jeden Fall versuche ich, von hier wegzukommen. Aber ich werde schon bald zurückkehren.«
»Ich verlasse mich darauf«, sagte Dakota in einem Tonfall, als ob er viel mehr wüsste, als er in diesem Augenblick zugeben wollte.
Skyes Körper schloss sich wieder um sie herum, und sie verwandelte sich von dem frei herumschwebenden Geist, der sie gewesen war, zurück in ein Wesen aus Fleisch und Blut. Die Kälte traf sie wie ein Schlag; sie keuchte, und mit einem Mal war sie kaum noch in der Lage zu atmen.
Schwerfällig versuchte sie, sich aufzurappeln und umzuschauen. Dakota war verschwunden; nichts erinnerte mehr an seine Anwesenheit. Es kam ihr seltsam vor festzustellen, dass er keine Fußabdrücke hinterlassen hatte und auch der Schnee nirgends eingedrückt war. Sie saß ganz allein im niedrigen Gestrüpp der Böschung, ihre nasse Unterwäsche fror an ihrem zitternden Körper fest; die Enden ihrer langen Haare waren bereits zu Eiszapfen geworden. Sie fühlte sich unbeschreiblich müde, und es kam ihr vor, als wenn sie sich nur ein bisschen hinlegen und ausgiebig schlafen müsste, um sich wieder besser zu fühlen.
Dies waren die deutlichen Auswirkungen der Unterkühlung; Skye kannte die Anzeichen. Also kämpfte sie gegen das Verlangen an, sich auszuruhen, schlang ihre
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