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Balthazar: Roman (German Edition)

Balthazar: Roman (German Edition)

Titel: Balthazar: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Gray
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bereits kalt geworden. Trotzdem schob er seine Finger zwischen seine Lippen – selbst kaltes Blut erschien ihm in diesem Augenblick wie eine Köstlichkeit …
    Und dann verschwand die Welt.
    Und sie wurde durch eine andere, eine bessere ersetzt.

5
    Massachusetts, 1640
    Balthazar holte tief Luft. Einen Augenblick lang war es ihm so vorgekommen, als wäre etwas seltsam an der Tatsache, dass er atmen musste – aber was sollte daran komisch sein? Sie waren gerade einen steilen Hügel emporgestiegen, was ausgereicht hätte, um jeden zum Keuchen zu bringen.
    Der merkwürdige Moment war schnell wieder vergessen und wurde durch eine seltene, tiefe Befriedigung ersetzt. Seinen Eltern zufolge und in den Augen der restlichen Gemeinde war auch sein Bestes niemals gut genug – kein Leben war je ausreichend arbeitsam und tugendhaft. Aber im Moment war er ganz allein, abgesehen von seiner Schwester und seinem Hund, und keiner von beiden würde ein Urteil über ihn fällen. Auf dem Markt in Boston hatte er eine Kuh für fünfzehn Wampumgürtel verkauft, drei mehr, als sein Vater erwartet hatte, was seine Eltern ganz sicher glücklich machen würde. Goodman Cash hatte aus reiner Freundlichkeit sogar den beiden More-Kindern ganz umsonst einen Apfel überlassen, was ein seltener Leckerbissen für sie war.
    Fido lief ihnen voraus und tollte durchs hohe Gras; Charity setzte ihm nach. Ihre natürliche Lebensfreude war viel zu überschäumend für die strengen Regeln, die ihren Alltag bestimmten, aber Balthazar mochte sich anstrengen, wie er wollte, er konnte an diesem Überschwang nichts Sündhaftes finden. Vielleicht war es für ein junges Mädchen unangemessen, vor den Augen anderer im Sonnenlicht herumzutanzen – man konnte das leicht für Unzüchtigkeit halten, nahm er an, auch wenn ihm klar war, dass Charity nichts Anstößiges im Sinn hatte. Hier und jetzt jedoch, wo sie von niemandem beobachtet wurde, war seine Schwester ganz frei, und das wusste sie.
    »Warum kann nicht immer Markttag sein?«, fragte Charity und streckte ihre Hände aus, als wolle sie das Sonnenlicht mit ihnen auffangen.
    »Weil wir nicht jeden Tag etwas zu verkaufen haben und weil auch niemand sonst jeden Tag etwas kaufen muss.«
    »Ich wünschte, es wäre anders.«
    In Balthazars Gedanken blitzte kurz das Bild von Märkten auf, die tatsächlich jederzeit geöffnet waren, auch nachts, aber der seltsame Tagtraum verschwand sofort wieder.
    »Wenn jeden Tag Markt wäre, könnten wir auch jeden Tag Jongleure sehen und Barden hören.«
    »Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Jongleur zu Gesicht bekommen.«
    »Aber Mama hat uns doch von ihnen erzählt, und sie hat sogar versucht, es uns mit Kartoffeln vorzumachen, ehe Papa hereinkam. Ich glaube, Jonglieren macht großen Spaß.«
    Balthazar dachte, dass das Leben in England, von dem ihre Mutter immer erzählte, viel angenehmer klang als das Leben in der Kolonie Massachusetts Bay. Ihr Vater erinnerte sie oft daran, dass man an einer Stadt baue, die größer werden würde, als es London je sein könnte, nämlich an der Stadt Gottes auf Erden. Aber das war nur ein schwacher Trost im Winter, wenn sich der Schnee auftürmte, Wind durch die Ritzen in den Ecken ihres Hauses mit den beiden Zimmern pfiff und sie tagelang nichts zu essen hatten als getrocknetes Wildtierfleisch und Rüben. Die Geschichten ihrer Mutter von London, wo es Geschäfte gab, die jeden Tag ein duftendes, heißes Getränk verkauften, das sich »Kaffee« nannte, und wo Sänger auf dem Marktplatz auftraten, wo sie jeder hören konnte – nun ja, die klangen näher am Himmel dran, als es Massachusetts Bay je sein würde.
    »Du magst die Markttage doch auch«, sagte Charity. »Dann kannst du nämlich Jane sehen.«
    Wenn ihre Eltern diese Bemerkung gehört hätten, dann hätte Balthazar alles abgestritten; seiner Schwester jedoch warf er nur ein Lächeln zu. »Sie sah heute gut aus, findest du nicht?«
    »Ein grünes Kleid. Grün!« Charity hatte in ihrem ganzen Leben noch nie ein Kleid angehabt, das nicht entweder schwarz oder braun gewesen war, und sie war stets von Frauen umgeben gewesen, die farbenfrohe Kleidung im besten Fall für ein Zeichen proenglischer Gesinnung hielten, im schlimmsten Fall für Schamlosigkeit. So kam sie über Janes grünes Kleid gar nicht hinweg. Insgeheim musste Balthazar sich eingestehen, dass ihm zum ersten Mal aufgefallen war, in welchem Maße leuchtende Farben lustvolle Gedanken befeuern konnten.
    Vielleicht lag es

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