Balthazar: Roman (German Edition)
aufsteigen, und er war sich sicher, dass er später für sein Aufbegehren würde büßen müssen.
Aber jetzt hatte er nichts zu befürchten. Sie brauchten eine Unterkunft mitten in der Stadt, und ein Kampf tief in der Nacht würde viel zu viele Menschen aufwecken. Das Blut des Mädchens zu trinken wäre dann nicht mehr ein verstohlener Akt, von dem niemand etwas mitbekommen würde. Das Risiko, entdeckt zu werden, war viel zu groß geworden.
Mit wutverzerrter Miene rauschte Lorenzo an Balthazar vorbei. Er stampfte den gesamten Weg die Treppe hinauf wie ein verzogenes Kind, das seinen Willen nicht bekommen hatte. Erleichtert ließ sich Martha gegen den Türrahmen ihres Zimmers sinken. »Ich danke Ihnen, Sir. Er war ausgesprochen hartnäckig, Sir.«
»Ich weiß, dass sie dir immer sagen, du sollst freundlich zu den Gästen sein«, sagte Balthazar. »Aber du musst dich nicht daran halten, ganz im Gegenteil. Das kann gefährlich sein. Du musst auf dich selbst achtgeben. Wenn dir jemals jemand … Angst macht, oder du dich verunsichert fühlst …, dann sei auf der Hut. Triff alle Vorsichtsmaßnahmen, die nötig sind. Hast du mich verstanden?«
Martha nickte. Eine Locke ihres dunklen Haares fiel ihr über die rosigen Wangen, und einen Moment lang erinnerte sich Balthazar wieder daran, wie es gewesen war, wenn man Begehren verspürte – wahres Begehren, nicht diese abgeschmackte Lust, die Constantia ihm hin und wieder abverlangte. Aber er würde nie wieder eine andere menschliche Frau in Gefahr bringen, indem er ihr seine Zuneigung offenbarte. Nicht nach der Sache mit Jane.
Das Mädchen war natürlich viel unschuldiger als er und vermutete bei ihm nichts als die nobelsten Motive. »Warum reisen Sie denn bloß in solcher Gesellschaft? Das sind keine … ehrenwerten Leute. Ganz anders als Sie, Sir.«
»Ich kann nirgendwo sonst hin.«
»Überall sonst wäre es besser, würde ich meinen.« Als hätte Martha Angst, zu weit gegangen zu sein, errötete sie und trat einen Schritt zurück, dann nickte sie Balthazar kurz zu, ehe sie die Tür fest hinter sich verschloss.
Überall sonst wäre es besser.
Und darüber hinaus hatte Martha ihn einen ehrenwerten Mann genannt. Wäre es denn möglich, dass es einen Platz für ihn in dieser Welt gäbe? Dass Menschen ihn nicht als Monster sehen, sondern ihn akzeptieren würden? Es erschien ihm unvorstellbar und doch irgendwie denkbarer als je zuvor.
Er stieg wieder die Treppe empor und kehrte in Constantias Bett und zu seiner elendigen Existenz zurück. Nachdem er sich neben seine Gespielin gelegt und die Decken bis zu den Schultern hochgezogen hatte, presste er die Augen zusammen.
Aber er fand keinen Schlaf.
Als der Morgen anbrach, wusste er, was er zu tun hatte.
Er stand auf und kleidete sich vollständig an, mit Strümpfen, Kniebundhosen, Mantel und Hut. Constantia rührte sich noch immer nicht. Einen Moment lang betrachtete er ihr schönes Gesicht und überlegte verzweifelt, wie er sich von ihr verabschieden sollte. Würde er sich denn je vollständig von ihr lösen können? In diesem Augenblick erschien ihm das als ein Ding der Unmöglichkeit. Sie war Gift für ihn, doch ein Gift, das durch seine Adern strömte. Sie würde für alle Zeiten ein Teil seiner selbst als Vampir sein.
Und doch fiel es ihm leichter, den Raum zu verlassen, als er geglaubt hatte. Er hoffte aus tiefstem Herzen, sie niemals wiedersehen zu müssen.
Balthazar war sich sicher, dass Charity schon wach war, denn selbst zu Lebzeiten war sie immer vor allen anderen – selbst vor der Sonne – auf den Beinen gewesen. Sie saß in dem großen Raum des Gasthauses vor den letzten Glutresten in der Feuerstelle, eingehüllt in ihre zerschlissenen Kleider. Der Raum wurde nur von dem Schein der glimmenden Kohlen und dem schummrigen Licht der Dämmerung, das durch eines der Fenster hereinfiel, erhellt. Charity wandte Balthazar den Blick zu, erhob sich jedoch nicht, um ihn zu begrüßen, sondern schwieg.
Seit dem Tag ihres Todes sprach sie nur noch sehr wenig mit ihm.
»Charity«, flüsterte Balthazar. »Schläft Redgrave?«
»Ja.« Es wurde stillschweigend von ihr erwartet, Redgrave das Bett zu wärmen, genau wie Balthazars Platz neben Constantia zu sein hatte.
»Gut. Dann haben wir ja eine Chance zu verschwinden.«
»Zu verschwinden?« Sie wiederholte seine letzten Worte, als entstammten sie einer Fremdsprache, die sie nicht verstand.
Nach eineinhalb Jahrhunderten der Gefangenschaft konnte man es ihr wohl
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