Balthazar: Roman (German Edition)
dafür gehabt. Redgrave auffliegen zu lassen, hätte bedeutet, auch sich selbst und, was weitaus schlimmer war, Charity ans Messer zu liefern. Charity mordete indes bedenkenlos, als ob sie keinerlei Vorstellung mehr davon hätte, was richtig und was falsch war. Redgraves zahllose Gewaltakte hatten ihr jede Vorstellung von Unrecht ausgetrieben. Balthazar war zu dem Schluss gekommen, dass er den Mund halten musste, wenn er nicht wollte, dass Redgrave Charity vollends zerstörte. Im Laufe der letzten Jahrzehnte war er jedoch immer mehr abgestumpft.
»Komm mit mir«, flüsterte Constantia und ließ ihre Hand an seiner Brust hinabgleiten. »Es ist schon spät.«
Als sie nach Balthazars Hand griff, leistete er keinen Widerstand, sondern ließ sich von ihr nach oben in ihr Zimmer und zu ihrem Bett führen.
Er hasste sie so sehr, aber er konnte sich ihr nicht entziehen. Sie war die erste und die einzige Frau, mit der er je geschlafen hatte, aber es gab keine Liebe und keine Zärtlichkeit zwischen ihnen. Ihre Küsse schmeckten wie Gift, und er küsste sie nur umso begieriger deswegen. Aus tiefstem Herzen wünschte er sich, dass das Gift eines Tages seinem Leben, das gar kein Leben war, ein Ende setzen würde, sodass er wirklich sterben könnte. Jedes Mal, wenn sie ihn zu sich ins Bett holte, spürte er, wie ein weiteres Bruchstück seiner menschlichen Seele zu Staub zerfiel.
Balthazar wollte es nur hinter sich bringen.
Während Constantia einige Stunden später neben ihm einschlief, lag Balthazar noch lange wach. Ihn quälten die Gedanken an die junge Kellnerin.
Vergiss es. Es ist nicht anders als sonst. Du bist nicht derjenige, der sie tötet. Und das bedeutet, dass dich die Sache nichts angeht.
Ich weiß, was geschehen wird. Ich weiß es und tue nichts dagegen. Das ist genauso schlimm, als wenn ich selbst ihr Blut trinken würde.
Schließlich konnte Balthazar es nicht mehr länger ertragen und schlüpfte unter der Bettdecke hervor. Vorsichtig lief er über die Dielenbretter, denn er hatte Angst, er könnte Constantia aufwecken. Aber sie hatte einen festen Schlaf, und die heutige Nacht bildete keine Ausnahme. Einen Moment lang starrte er auf sie hinab und betrachtete ihr üppiges Haar, das über das Kopfkissen ausgebreitet war. Ihre makellose Gestalt zeichnete sich unter der Decke ab, die sie beide zugedeckt hatte. Balthazar fragte sich, wie ein so vollendeter Körper eine so bösartige Natur beherbergen konnte.
Genug. Er hatte etwas zu erledigen.
Balthazar schlüpfte in Hose, Hemd und Stiefel; der Rest der Kleidung war überflüssig. Auf dem Flur des Gasthofes, weit entfernt von den bescheidenen Feuern in den Zimmern, war die Luft beinahe noch kälter als draußen. Er musste seinen Weg ohne Kerzen finden, doch zu den wenigen unbestreitbaren Vorteilen des Daseins als Vampir gehörte die Fähigkeit, auch im Dunkeln sehen zu können. Mit sicherem Tritt huschte er die Treppe hinunter. Sein geschärftes Gehör vernahm die verräterischen Geräusche sofort. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen.
»Sir … Sie sollten in Ihr Zimmer zurückkehren, Sir.«
»Aber ich will lieber hier sein.«
Balthazar hastete, so schnell er konnte, durch die Flure der alten Herberge auf dem Weg zur Rückseite des Gebäudes. Dort, unmittelbar gegenüber der Tür, die hinaus zur Gasse führen musste, lag die Kammer des Schankmädchens. Zitternd stand sie da, ein Tuch um sich geschlungen, während Lorenzo ihr eine Kerze viel zu nah vors Gesicht hielt.
»Ich habe mein Gedicht vollendet«, hauchte Lorenzo der vor Angst bebenden Kellnerin ins Ohr. »Willst du es denn gar nicht hören?«
»Niemand will deine Gedichte hören«, sagte Balthazar und trat in den schwachen Schein der Kerze. »Sie sind unerträglich. Geh ins Bett und lass Martha in Ruhe.«
Martha strahlte vor Erleichterung. Lorenzo blickte finster, als er antwortete: »Dies ist nicht deine Angelegenheit.«
»Und deine ebenso wenig. Verschwinde von hier. Vorher werde ich nicht gehen.« Balthazar verschränkte die Arme vor der Brust.
Lorenzo blieb einen Moment lang unbeweglich stehen, als könne er es einfach nicht glauben, dass sich ihm jemand in den Weg stellte, der gewöhnlich so trübsinnig und antriebslos wie Balthazar war. Noch weniger vorstellbar war es, dass dieser sich hier und jetzt für eine junge Frau einsetzte, die sie beide erst vor wenigen Stunden zum ersten Mal gesehen hatten. Balthazar spürte Zorn und die Enttäuschung über einen vereitelten Mord in Lorenzo
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