Balthazar: Roman (German Edition)
ohne dass er eine einzige lohnenswerte Erfahrung gemacht hatte. Damit sollte ein für alle Mal Schluss sein, hatte er sich vorgenommen.
Außerdem: Wenn er Skye helfen wollte, dann musste er bald damit anfangen. Und er wollte ihr um jeden Preis zu Hilfe kommen, mehr, als er es sich nach den wenigen Tagen hätte vorstellen können …
Jetzt wollte er darüber jedoch nicht länger nachgrübeln, und so versuchte er zu schlafen.
Und dann begann er zu träumen …
1988
Wie viele Jahre hatte er sozusagen verschlafen? Fünf Jahre? Wahrscheinlich eher zehn. Balthazars Jeans und sein T-Shirt waren unmodern geworden, denn jeder trug jetzt verwaschene Jeans, und es war allgemein in Vergessenheit geraten, wann die Muster auf den Ärmeln seines Hemdes in Mode gewesen waren. Aber er hatte es geschafft, nirgends aufzufallen.
Nicht, dass er das Haus in Chicago in den letzten zehn Jahren nicht verlassen hätte. Er hatte Streifzüge zu den Blutbanken der Krankenhäuser und zu den Fleischern unternommen, damit er dort das Blut bekam, das er dringend benötigte. Er war zur nächsten Bar gelaufen und wieder zurück. Manchmal hatte er sich auf den Weg gemacht, um sich Zigaretten zu besorgen. Aber seine depressive Stimmung hatte wie ein Schleier über seiner Umwelt gelegen, sie vernebelt und alles weiter weg erscheinen lassen, als es in Wirklichkeit war. Nun war dieser Schleier verschwunden, und Balthazar fand eine Welt vor, die sich verändert hatte.
Da waren zum Beispiel die Autos. Seit wann waren sie so langweilig geworden? Alle waren weiß oder grau, kastenförmig und fantasielos. Die Mode der Frauen war dagegen interessant, ein bisschen wie die der 1940er Jahre, nur im Drogenrausch. Hoch aufgetürmte Haare, dicke Schulterpolster, grelle Neonfarben. Es würde eine Weile dauern, bis er sich daran würde gewöhnt haben, aber alles war ihm lieber als die 1970er-Jahre.
Die Ladengeschäfte waren bis auf wenige Ausnahmen verschwunden; wahrscheinlich hatten sie den Einkaufszentren weichen müssen, von denen er gehört hatte. Er musste sich unbedingt mal eines anschauen.
»Sieh mal einer an«, sagte Redgrave und lief mit einem Mal neben ihm. »Balthazar kehrt in seine goldenen Jahre zurück.«
Balthazar blieb wie angewurzelt stehen, starrte Redgrave an und versuchte zu begreifen, wie dieser hierhergekommen war. Es ergab keinen Sinn. Er hatte Redgrave nicht mehr gesehen, seit … seit …
»Du hast versucht, meinen Clan zu vernichten. Mich zu vernichten.« Wie kam Redgrave in seinen Geist? Alles um sie herum veränderte sich rasch. Die dämmrige Straße in Chicago schien zu wabern, nein, zu schmelzen . Sie verschwand nicht, sondern sie schmolz wie Kerzenwachs und nahm andere Formen an.
Plötzlich war da eine Disco in den späten 1970er-Jahren.
Balthazar war schon einmal hier gewesen. Doch halt, nein, dies war das erste Mal. Balthazars Verwirrung wurde noch größer, als Redgrave immer ausgelassener wurde und in die Hände klatschte, während er Balthazar umkreiste. Dichter Rauch von Zigaretten und anderen Stoffen, die geraucht wurden, ließ die blinkenden Lichter um sie herum beinahe gespenstisch wirken.
»Ich habe gerade erst damit angefangen, Mittel und Wege zu finden, wie ich dir Schmerz zufügen kann«, sagte Redgrave. »Nimm diesen Traum zum Beispiel: Ich wäre nie so rücksichtslos, wenn du bessere Manieren gehabt hättest. Aber Charity sagt, du wärst sehr ungezogen gewesen.«
Charity. Seine kleine Schwester. Balthazar blickte sich im Club um und sah sie.
Da waren Charity und Jane in ihren Kleidern aus dem Jahr 1600, und Constantia stand zwischen den beiden.
»Willst du das alles noch einmal erleben? Dafür werde ich sorgen.«
Redgrave beugte sich näher zu Balthazar, und sein grausames Lächeln blitzte im Dämmerlicht. »Es sei denn, du verlässt auf der Stelle die Stadt und überlässt Skye mir.«
Skye … Skye gehörte hier nicht an diesen Ort und nicht in diese Zeit …
Balthazar fuhr kerzengerade in seinem Bett auf und war mit einem Schlag hellwach. Dieser Traum war lebendig gewesen. Viel zu lebendig. Wenn ein Vampir träumte, dann konnte sein Erschaffer in diesen Traum eindringen. Gewöhnlich war das ein Zeichen von Zuneigung, was der Grund dafür war, dass Redgrave ihn bislang verschont hatte. Balthazar hatte an diese Fähigkeit kaum je einen Gedanken verschwendet, bis letztes Jahr plötzlich Charity damit begonnen hatte, in Lucas’ Träume einzudringen, als dieser ein Vampir war. Jede Nacht hatte sie ihn beim
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