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Baltrumer Bitter (German Edition)

Baltrumer Bitter (German Edition)

Titel: Baltrumer Bitter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Barow
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erstrebenswerter sein?
    Plötzlich schreckte er auf.
Irgendetwas hatte sich verändert. Eine leichte Brise strich um seine Schultern,
dann noch eine. Diesmal heftiger. Er schaute sich um und stellte mit Unruhe
fest, dass die Farbe des Himmels sich in Sekundenschnelle von Tiefblau in ein
unheimliches Grau verwandelte. Im gleichen Moment krachte ein Donnerschlag. Im
schnell stärker werdenden Wind schauderte er mit seinem bloßen Oberkörper. Vom
Festland zog in rasender Geschwindigkeit eine schwarze Wand heran. Die Sonne,
die gerade noch den Himmel beherrscht hatte, war verschwunden. Erschrocken
stand er auf.
    Bloß nichts wie weg hier. Das leichte Lüftchen, das er noch vor
gut fünf Minuten gespürt hatte, wuchs zu einem Orkan. Er versuchte zu rennen,
stemmte sich gegen den Sturm. Wo war die Öffnung in der Palisadenwand? Er lief,
stolperte, stürzte und rappelte sich an hölzernen Pfählen hoch. Stürzte erneut.
Griff wieder zu. Ein Holzsplitter hinterließ eine tiefe Furche in seiner
Handfläche. Er spürte keinen Schmerz. Er wollte aufstehen, aber der Wind
drückte ihn auf die roten Klinkersteine, nahm ihm jegliche Kraft. Sandkörner
bissen sich in sein Gesicht. Seine Augen tränten. Dann fielen die ersten
Hagelkörner aus den schwarzen Wolken und trafen ihn mit unbarmherziger Wucht.
Eiskörner, groß wie Tischtennisbälle, hinterließen bei jedem Einschlag eine
kleine schmerzende Mulde auf seinem Körper. Wasserströme rauschten an ihm
vorbei. Von den Häusern, die ihm vor wenigen Minuten noch als rettende Zuflucht
erschienen waren, hörte er Krachen und Scheppern, als ob auch sie dem Wind
nichts entgegenzusetzen hätten. Er verschloss seine Ohren mit den Händen und
hoffte auf ein Wunder.
    *
    Margot Steenken saß am Küchentisch und säuberte Erdbeeren.
Rund dreißig kleine Gläser standen abgewaschen und mit der Öffnung nach unten
auf einem frischen Handtuch neben der Spüle. Sie freute sich über die wunderbar
schmackhaften roten Früchte, die sie zu Marmelade verarbeiten würde. Ihre Gäste
waren ganz wild auf ihre selbst gemachten Brotaufstriche. Hilda saß ihr
gegenüber. Auch sie hatte eine volle Schüssel Beeren vor sich stehen und zupfte
vorsichtig die kleinen grünen Blättchen von den Früchten.
    Ganz in Gedanken versunken merkte Margot im ersten Moment gar
nicht, wie das Licht in der Küche stetig abnahm. Nur die Reaktion ihrer Tochter
holte sie in die Wirklichkeit zurück. Hilda hatte mit einem heftigen Ruck die
Schüssel auf den Tisch geknallt. Einige Erdbeeren rollten über die glatte
Fläche und landeten dann mit dumpfem Plopp auf dem Fußboden. Hilda sprang auf
und lief zum Lichtschalter. Im gleichen Moment tauchte ein greller Blitz Himmel
und Küche in gleißendes Licht, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnerschlag.
Dann wurde es ohne Vorwarnung Nacht, und eine fast undurchdringliche Regenwand
verwehrte jegliche Sicht nach draußen. Dazu kam ein Wind, der mit jeder Sekunde
zunahm.
    Hilda hatte sich in die Ecke
der Küchenzeile gepresst und schaute ihre Mutter mit schreckgeweiteten Augen
an.
    »Es ist nur ein Unwetter, Hilda«, sagte Margot und versuchte,
überzeugend zu klingen, doch ein Gefühl der Ohnmacht ließ ihre Stimme zittern.
    Sie horchte. Da war es wieder, dieses schleifende Geräusch, das
in einem hellen Scheppern mündete. Immer und immer wieder. Margot war sich sicher,
dass der Wind unter ihre Dachziegel gefasst hatte und einer nach dem anderen
auf ihren Waschbetonplatten zerschellte. Egal. Sie musste sich um Hilda
kümmern, die wie ein Häuflein Elend auf dem Boden kauerte.
    Sie lief zu ihrer Tochter und umklammerte deren Hände. Sie
fühlten sich eiskalt an. »Es ist gleich vorbei«, flüsterte Margot ihr zu. »Es
ist gleich vorbei.«
    Hoffentlich hatte sie recht. Ein heftiges Knacken ließ sie
zusammenzucken. Ein Baum? Noch waren sie in der Küche sicher, aber wie lange
noch? Wieder dröhnte beängstigendes Krachen in den Raum, begleitet von einem
Klingen, als sich die Gläser auf dem Tuch gegeneinanderrieben. Fast war es wie
eine Antwort auf den tobenden Wind. Dann erlosch das Licht. Margot zuckte
zusammen. Arnold! Warum war ihr Mann nicht da? Sie hörte die große Eingangstür
schlagen. Das konnte er nicht sein. Er würde natürlich hinten herum reinkommen.
So wie er es immer tat.
    »Nein, nein«, wimmerte Hilda. Dann noch einmal lauter: »Nein!«
    Margot war einer Ohnmacht nahe. Das erste Mal seit über zwanzig
Jahren hatte sie wieder die Stimme ihrer Tochter gehört!

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